Boeser Traum
was sagt.
»Erzähl mir mehr von Lotta«, flüstert er in ihr Ohr. »Wo ist der Keller? In einem Haus? Erzähl es mir. Ich helfe dir.«
Emilia kneift die Augen fest zusammen. Vielleicht sind es diese drei Worte, dieses »Ich helfe dir«, das sie berührt. Hatte sie das nicht damals Charlotta versprochen?
Sie räuspert sich, versucht sich über die Lippen zu lecken. Die sehen trocken aus.
»Keller«, wiederholt sie sich wieder.
»Bei Klärwerk«, haucht sie.
»Beim Klärwerk?«, hakt Julius nach.
Sie lässt den Kopf leicht nach unten fallen.
»In einem Haus beim Klärwerk?«, fragt Julius aufgeregt weiter.
Und für einen ganz kleinen Moment macht Emilia die Augen auf, sieht ihn an und schläft mit seiner Hilfe wieder ein.
Drei Minuten später hat er das Haus gefunden. Zumindest auf google-maps. Er ist sich ganz sicher. Ein paar Hundert Meter hinterm Klärwerk steht ein altes, halb verfallenes Haus. Das muss es sein. Er zoomt sich so nah ran, wie es geht, kann aber nicht viel erkennen. Es ist mittlerweile halb acht. Um zehn fängt sein Nachtdienst an. Er könnte es schaffen. Er könnte in der Zeit zu dem Haus fahren und wieder zurück. Aber was würde er dort machen? Was würde er Lotta sagen? Was würde er tun? Er starrt auf das Haus. Er stellt sich vor, wie er den Schlüssel in das Schloss steckt, langsam hineingeht. Sie sitzt auf dem Boden, den Kopf gesenkt. Die langen Haare fallen vor ihr Gesicht.
Und dann? Was sagt er dann?
Er spürt, wie die Aufregung in ihm steigt. Er ist so kurz davor. Sein Zeigefinger streicht über den Monitor, über das alte Haus. Da sitzt sein Mädchen.
Er hört aufgeregte Stimmen vom Flur, fährt den Computer runter und geht nachsehen. Emilias Eltern stehen aufgebracht vor Schwester Lisa. »Dieser Pfleger wollte uns sofort Bescheid geben, wenn Emilia zu sich gekommen ist. Hat er aber nicht. Und jetzt erzählen Sie uns, dass sie gerade wach war und bereits wieder eingeschlafen ist. Was soll das?«
»Es tut mir sehr leid. Sie war nur ganz kurz bei sich. Allerdings so aufgeregt, dass wir sie sedieren mussten«, erklärt Lisa.
»Was heiÃt das?« Dagmars Stimme ist ungewöhnlich laut.
»Wir mussten ihr Beruhigungsmittel geben.«
»Wie verdammt soll unsere Tochter zu sich kommen, wenn sie hier andauernd Beruhigungsmittel bekommt? Können Sie uns das mal erklären? Die wird doch künstlich in einem Dauerschlaf gehalten.«
»Natürlich soll sie zu sich kommen, aber sie darf sich nicht aufregen. Stress ist jetzt absolut kontraproduktiv. Da müssen wir dann gegensteuern«, erläutert Lisa, als wäre sie die Oberärztin.
»Was hat Emilia denn so aufgeregt? Was hat sie gesagt?«, erkundigt sich Michael Engels.
Julius hält im Hintergrund die Luft an.
»Sie hat wieder von Lotta gesprochen und von einem Keller.«
Dagmar dreht sich zu ihrem Mann um: »WeiÃt du noch, als die beiden sich mal bei uns im Keller eingeschlossen haben und dann das Schloss nicht mehr öffnen konnten. Wir mussten den Schlüsseldienst holen.«
Michael grinst. »Genau, und in der Zwischenzeit haben die beiden Schleckermäuler zwei Gläser Erdbeermarmelade in sich reingestopft.«
»Es ist ganz natürlich, dass Emilia nun ganz frühe Erinnerungen durch den Kopf gehen, sie vielleicht sogar das Gefühl hat, in der Situation zu sein. Durch den Unfall können Bewusstsein und Unterbewusstsein, Erinnerung und Wahrnehmung verschwimmen. Das muss Sie nicht beunruhigen«, doziert Lisa weiter.
Julius verzieht das Gesicht. Was quatscht das Trampeltier da? Und wieso tut sie so, als sei sie die Erfinderin der Neurologie und Gehirntransplantation? Wenn das so wäre, sollte sie sich vielleicht mal selber eins einpflanzen. Immerhin scheinen Emilias Eltern ein bisschen beruhigt.
»Vielleicht wäre es ganz gut, Sie bringen morgen etwas mit, das Emilia an ihr Leben erinnert. Ein Schmusetier. Oder Sie lesen ihr ein Buch vor, das sie sehr mag.«
Julius verdreht die Augen. Wie viele schlechte Arztserien guckt diese Lisa wohl in ihrer Freizeit? Emilia liegt nicht im Wachkoma. Er hört Dagmar schluchzen. Klar. Sie hat jetzt die Vorstellung, dass sie die nächsten Jahre am Bett ihrer komatösen Tochter sitzt und irgendwelche Bücher vorliest und ihr mit einem Teddy über die Hand streichelt. Er ist angewidert von dieser Wichtigtuerin, und
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