Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
wollte kein Opfer sein, das begafft und bemitleidet wurde.
»Weiß … weiß die Presse das schon?«, nuschelte Hanna. Sie konnte die Schlagzeile auf der Titelseite der Boulevardblätter direkt vor sich sehen: Hanna Herzmann brutal vergewaltigt. Vielleicht noch mit einem Foto, das sie hilflos und halbnackt zeigte! Diese Vorstellung war der blanke Horror.
Doch zu Hannas Erleichterung schüttelte die Ärztin den Kopf.
»Nein, das Krankenhaus hat eine Nachrichtensperre verhängt. Die Polizei möchte allerdings mit Ihnen sprechen.«
Na klar. Die Polizei. Sie war jetzt ein Opfer . Ein Vergewaltigungsopfer. Besudelt. Missbraucht. Geschändet. Immer wieder hatte sie Frauen in ihrer Sendung gehabt, die vergewaltigt worden waren, hatte mit ihnen über Traumata, Ängste und Täter gesprochen, über monate- oder jahrelange Psychotherapien und Selbsthilfegruppen. Sie hatte Mitgefühl und Verständnis geheuchelt, aber insgeheim hatte sie diese Frauen verachtet und gedacht: selbst schuld, wenn euch das passiert. Wer so aufreizend herumläuft wie eine Nutte auf dem Straßenstrich oder geduckt wie ein ängstlicher Hase, der muss damit rechnen, überfallen und vergewaltigt zu werden. Und nun sollte ihr dasselbe zugestoßen sein? Der Gedanke war schier unerträglich.
»Setzen Sie sich nicht unter Druck. Wenn Sie möchten, können Sie mit einer Psychologin sprechen.« Die Ärztin legte ihre Hand kurz auf Hannas Arm. In ihren Augen las Hanna Mitleid. Und das war das Allerletzte, was sie wollte.
Sie schloss die Augen. Nur nicht darüber nachdenken. Am besten versuchte sie gar nicht mehr, sich an irgendetwas zu erinnern. Wenn sie sich nicht erinnerte, dann konnte sie vielleicht verdrängen, dass es passiert war. So bald wie möglich musste sie ihren Agenten anrufen, damit er sich eine passende Story für Presse und Öffentlichkeit ausdachte, denn es würde sich nicht auf Dauer verheimlichen lassen, dass ihr irgendetwas zugestoßen war. Ein Unfall war gut. Ja, mit einem Autounfall konnte sie leben. Im Licht der Scheinwerfer huschte vor ihr etwas über die Straße, und sie riss instinktiv das Lenkrad nach links . Hanna zuckte erschrocken zusammen, so klar sah sie die Situation vor sich. Sie war auf dem Weg nach Hause gewesen, als ihr ein Tier vor das Auto gelaufen war. Sie hatte es geschafft, ihm auszuweichen und dann … Laute Musik. Das Tier im Kegel der Scheinwerfer. Ein Dachs oder ein Waschbär. POLIZEI – BITTE FOLGEN . Das Warndreieck. Erinnerungsbruchstücke blitzten durch den Nebel in ihrem Kopf, unsortiert und unwillkommen. Sie war vergewaltigt worden. Wer hatte sie gefunden? Irgendwelche Fremde, die sie schwach, hässlich und misshandelt gesehen hatten?
Hanna ballte die Hände zu Fäusten und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Großer Gott, welche Schande! Wie würde sie jemals damit weiterleben können?
*
Statt der zwei angeforderten Streifenwagen wartete eine komplette Einheit des Sondereinsatzkommandos, als Bodenstein, Kröger, Altunay und Pia in der Peter-Böhler-Straße eintrafen.
»Was soll das denn?«, fragte Bodenstein den Einsatzleiter irritiert, als er die Männer in den schwarzen Kampfuniformen erblickte. Wenig später begriff er, dass Ostermann bei der Benachrichtigung erwähnt hatte, dass die festzunehmende Zielperson ein Road King war, und damit war seine Anfrage von der Zentrale an die Abteilung Organisierte Kriminalität weitergeleitet und das SEK alarmiert worden.
»Wolltet ihr da etwa einfach klingeln und reinmarschieren?«, fragte der Einsatzleiter herablassend.
»Allerdings«, erwiderte Bodenstein kalt. »Und genau so werden wir das jetzt auch machen. Ich will hier kein Aufsehen erregen und den Mann womöglich noch mit einem Haufen testosterongeladener Kampfmaschinen unnötig provozieren.«
Der Einsatzleiter verzog verächtlich das Gesicht.
»Ich habe keine Lust, hinterher stundenlang Protokolle zu schreiben, weil ihr Provinzsheriffs die Situation falsch eingeschätzt habt«, sagte er. »Ich werde die Aktion koordinieren. Meine Jungs wissen, was sie zu tun haben.«
Immer mehr Passanten wurden auf sie aufmerksam, Anwohner steckten neugierig ihre Köpfe aus den Fenstern oder lehnten sich über die Balkonbrüstungen. Pia schüttelte ungeduldig den Kopf. Ihrem Chef stand mal wieder seine angeborene Höflichkeit im Wege.
»Wenn ihr hier noch ein bisschen länger rumdiskutiert, sind die Vögel gleich gewarnt und ausgeflogen«, mischte sie sich ein. »Ich wollte heute auch noch mal irgendwann
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