Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
gestritten. Ihm war nichts schnell genug gegangen, und sie hatte sich über seine Überheblichkeit und Penetranz geärgert. Es war gar nicht so einfach, Medikamente und technisches Gerät über Hunderte von Kilometern auf dem Landweg herbeizuschaffen. Doch letztlich arbeiteten sie für dieselbe Sache, und obwohl sie sich fürchterlich über ihn aufgeregt hatte, so hatte er sie als Arzt tief beeindruckt. Für seine Patienten arbeitete er bis zur völligen Erschöpfung, manchmal 72 Stunden am Stück, und im Notfall improvisierte er, nur um helfen und heilen zu können.
Dr. Florian Finkbeiner machte keine halben Sachen; er war mit Leib und Seele Arzt und liebte seinen Beruf. Ein Menschenleben, das er nicht retten konnte, betrachtete er als persönliche Niederlage. Es war diese Widersprüchlichkeit seines Charakters, die Emma langsam, aber sicher in ihren Bann gezogen hatte, auf der einen Seite der mitfühlende Menschenfreund, auf der anderen Seite der grüblerische Zweifler, der fast schon zynisch klingen konnte. Manchmal versank er in tiefer Melancholie, die in depressive Zustände umschlagen konnte, aber er konnte auch witzig, charmant und ausgesprochen unterhaltsam sein. Außerdem war er der wohl bestaussehende Mann, den sie je getroffen hatte.
Emmas Kollegin hatte sie gewarnt, als sie ihr gestanden hatte, dass sie sich in Florian verliebt hatte. Lass die Finger von ihm, wenn du dich nicht unglücklich machen willst, hatte sie gesagt. Der schleppt die Probleme der ganzen Welt mit sich herum. Aber, hatte sie spöttisch hinzugefügt, vielleicht ist er genau der Richtige für dich mit deinem Helfersyndrom. Emma hatte die Zweifel, die diese Worte in ihr geweckt hatten, schnell verdrängt. Einen Mann wie Florian musste sie eben mit seinem Job und seinen Patienten teilen, aber das, was für sie übrig blieb, reichte ihr. Ihr Herz floss über vor Zärtlichkeit, wenn sie ihn so dasitzen sah. Das lockige dunkle Haar, der Bartschatten auf Wangen und Kinn, die warmen dunklen Augen, der empfindsame Mund, die zarte Haut an seinem Hals.
»Hallo«, sagte sie leise. Er zuckte erschrocken hoch, starrte sie an und schloss mit einem Knall seinen Laptop.
»Großer Gott, Emmi! Musst du mich so erschrecken?«, stieß er hervor.
»Entschuldige bitte.« Sie drückte auf den Lichtschalter. Die Halogenlampen an der Decke tauchten die Küche in gleißend helles Licht. »Das wollte ich nicht.«
»Louisa hat den ganzen Abend gequengelt«, sagte er und stand auf. »Sie wollte nicht essen, hatte Bauchweh. Ich habe ihr dann noch ein paar Geschichten vorgelesen, und jetzt schläft sie.«
Er nahm sie in die Arme und küsste sie auf die Wange.
»Wie war dein Klassentreffen? Hat’s Spaß gemacht?«, erkundigte er sich und legte seine Hand auf ihren Bauch. Das hatte er schon sehr lange nicht mehr getan. Noch etwas mehr als fünf Wochen, dann war diese Schwangerschaft, die von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden hatte, herum. Florian hatte kein zweites Kind gewollt – und sie eigentlich auch nicht, aber dann war es irgendwie passiert.
»Ja, es war echt interessant, sie alle nach so langer Zeit zu sehen. Irgendwie haben sie sich kaum verändert.« Emma lächelte. »Und ich habe meine frühere beste Freundin wiedergetroffen, die ich seit dem Abi nicht mehr gesehen habe.«
»Das ist schön.« Florian lächelte auch, dann warf er einen Blick auf die Küchenuhr über der Tür. »Sag mal, ist es okay, wenn ich noch mal rüber zu Ralf auf ein Bier gehe?«
»Natürlich. Das hast du dir nach einem Abend mit einer quengeligen Louisa verdient.«
»Es wird auch nicht zu spät.« Er küsste sie noch einmal auf die Wange, dann schlüpfte er in seine Slipper, die neben der Wohnungstür standen. »Bis später!«
»Ja, bis später. Viel Spaß.«
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, im Treppenhaus ging das Licht an. Emma stieß einen Seufzer aus. In den ersten Wochen seit seiner Rückkehr aus Haiti war Florian seltsam gewesen, aber in den letzten Tagen schien er sich wieder gefangen zu haben. Emma kannte seine düsteren Phasen, in denen er abweisend und in sich gekehrt war. Meist vergingen sie nach ein paar Tagen, diesmal hatte es jedoch sehr viel länger gedauert. Obwohl er selbst vorgeschlagen hatte, bis zur Geburt des Babys in Falkenstein zu bleiben, musste es sich für ihn komisch anfühlen, plötzlich wieder in Deutschland zu sein und im Haus seiner Eltern zu leben, aus dem er vor über fünfundzwanzig Jahren mehr oder weniger geflohen
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