Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
war.
Emma öffnete den Kühlschrank, holte eine Flasche Mineralwasser heraus und schenkte sich ein Glas ein. Dann setzte sie sich an den Küchentisch. Nach den vielen aufregenden Jahren des Zigeunerlebens, das sie in die entlegensten Gebiete auf dem Globus geführt hatte, fand sie die Vorstellung, endlich sesshaft werden und Wurzeln schlagen zu können, ausgesprochen verlockend. Nächstes Jahr wurde Louisa schulpflichtig, spätestens dann war es ohnehin vorbei mit dem Leben in irgendwelchen Camps. Florian war ein hervorragender Chirurg, er hätte in jeder Klinik in Deutschland mit Kusshand eine Stelle bekommen. Allerdings war er mit sechsundvierzig Jahren auch nicht mehr jung. Seine Chefs, so hatte er bei einer Diskussion über dieses Thema erst neulich gesagt, seien dann womöglich jünger als er. Außerdem könne er sich nicht vorstellen, Tag für Tag in einem Krankenhaus mit degenerierten, vollgefressenen Wohlstandsopfern konfrontiert zu werden. Das hatte er mit derselben Vehemenz von sich gegeben, mit der er sich für seine Ziele einsetzte, und Emma hatte begriffen, dass ihn nichts würde umstimmen können.
Sie gähnte. Zeit, ins Bett zu gehen. Emma stellte das benutzte Wasserglas in die Spülmaschine und löschte das Licht. Auf dem Weg ins Badezimmer schaute sie nach Louisa, aber die schlief tief und friedlich, umgeben von ihren Stofftieren. Emmas Blick fiel auf das Buch, aus dem Florian der Kleinen vorgelesen hatte, und sie musste lächeln. Wer weiß, wie lange er hatte vorlesen müssen! Louisa war ganz vernarrt in Sagen und Märchen, sie kannte das Märchenbuch auswendig, egal ob Hänsel und Gretel, Rapunzel, Schneeweißchen und Rosenrot oder den gestiefelten Kater. Behutsam schloss Emma die Tür. Florian würde sich schon in seinem neuen Leben zurechtfinden. Irgendwann würden sie ein eigenes Haus haben und eine richtige Familie sein.
*
Der Fußballplatz hatte sich geleert, aber hinter der Absperrung zur Schleuse hin drängten sich noch immer sensationslüsterne Schaulustige und inzwischen auch die Vertreter der Presse. Pia versuchte erneut, ihren Chef zu erreichen. Vergeblich. Sein Handy war zwar eingeschaltet, aber er ging nicht dran. Bei Kriminaloberkommissar Kai Ostermann hatte sie mehr Glück, er meldete sich sofort.
»Entschuldige die Störung«, sagte Pia. »Wir haben in Eddersheim kurz vor der Staustufe eine Wasserleiche aus dem Fluss geholt. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.«
»Kein Thema«, erwiderte Kai, ohne auch nur ein Wort über die späte Uhrzeit zu verlieren. »Was soll ich machen?«
»Ich brauche die Genehmigung für eine Obduktion, gleich morgen. Und vielleicht kannst du die Vermisstenmeldungen checken. Ein junges Mädchen, zwischen vierzehn und sechzehn Jahren. Blond, sehr schlank, dunkelbraune Augen. Henning meint, sie sei schon ein paar Tage tot.«
»Alles klar. Ich fahre gleich ins Büro.«
»Ach, und versuch bitte den Chef zu erreichen.« Pia beendete das Gespräch und schickte Bodenstein eine SMS . Seit vier Tagen war er verschollen, dabei hatte er ihr letzte Woche gesagt, er sei ab Donnerstagabend wieder erreichbar.
»Frau Kirchhoff!«, rief ein Mann mit einer Kamera des Hessischen Rundfunks auf der Schulter. »Kenne mer net e paar Bilder habbe?«
Aus reiner Gewohnheit wollte Pia ablehnen, aber dann überlegte sie es sich anders. Ein Bericht im Fernsehen konnte bei der Klärung der Identität des toten Mädchens durchaus hilfreich sein.
»Ja, könnt ihr«, sagte sie also. Sie bat einen der Streifenpolizisten, die an der Absperrung standen, die Kameraleute und Journalisten zum Leichenfundort zu begleiten. HR , SAT 1, RTL Hessen, Antenne Pro, rheinmaintv. Alle hörten lieber Polizeifunk als Musik im Radio.
Einer der Rettungswagen war mit dem jugendlichen Komasäufer verschwunden, an seiner Stelle stand ein Leichenwagen da.
Pia klopfte an die Seitentür des verbliebenen Rettungsfahrzeugs, die sofort geöffnet wurde.
»Kann ich mit der Frau sprechen?«, erkundigte sie sich.
Der Notarzt nickte. »Sie steht noch unter Schock, aber wir konnten sie so weit stabilisieren.« Pia kletterte in den Wagen und setzte sich neben die junge Frau auf den Notsitz. Sie hatte ein blasses, aber hübsches Kindergesicht mit weit aufgerissenen Augen, in denen Pia Angst und Schrecken las. Das Entsetzliche, das sie erlebt haben mochte, würde sie nie mehr loslassen.
»Hallo«, sagte Pia freundlich. »Ich bin Pia Kirchhoff von der Kripo Hofheim. Können Sie mir Ihren Namen sagen?«
»A …
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