Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
hatte, allerdings nicht ohne Pia zur Obduktion nach Frankfurt zu bestellen, zu der sie ohnehin hätte fahren wollen.
Allen anfänglichen Bedenken zum Trotz hatte sich Dr. Nicola Engel in den letzten beiden Jahren zu einer guten Behördenleiterin mit einem strengen, aber gerechten Führungsstil entwickelt, die sich immer vor ihre Mitarbeiter stellte und interne Probleme nie an die Öffentlichkeit dringen ließ. Innerhalb der RKI Hofheim war ihre Autorität unbestritten, man begegnete ihr mit Respekt, denn im Gegensatz zu ihrem Vorgänger im Amt hielt sie nur wenig von Politik, dafür umso mehr von ordentlicher Polizeiarbeit.
»Die Engel ist schon richtig gut«, sagte Pia und reichte Bodenstein den Autoschlüssel. »Kannst du fahren? Ich muss noch mal mit Alina Hindemith telefonieren.«
Bodenstein nickte.
Im Anschluss an die Besprechung hatten er, Ostermann und Pia mit den jungen Leuten gesprochen, die gestern bei dem Besäufnis dabei gewesen waren. Pia hatte von dem Mädchen, das die Leiche gefunden hatte, die Namen der Mittrinker erfahren und alle vier Jugendlichen mitsamt ihren Eltern auf das Kommissariat bestellt. Zwei Mädchen, zwei Jungs, kleinlaut, tief betroffen, aber nur wenig hilfreich. Keiner von ihnen wollte das tote Mädchen im Schilf bemerkt haben, alle behaupteten, sich nicht erinnern zu können, was überhaupt geschehen war. Sie hatten alle vier gelogen.
»Ich sage dir, die sind abgehauen, als sie die Tote gesehen haben«, sagte Pia und suchte in ihrer Tasche nach der Telefonnummer von Alina. »Und ich bin ziemlich sicher, dass sie ihren Freund Alex bei ihrer Flucht einfach zurückgelassen haben, genau wie Alina.«
»Damit hätten sie sich schlimmstenfalls der billigenden Inkaufnahme des Todes ihres Kumpels schuldig gemacht.« Bodenstein stoppte an der Ausfahrt und setzte den linken Blinker. Mangels Klimaanlage fuhren sie mit heruntergelassenen Fenstern, bis sich die aufgestaute Hitze auf ein erträgliches Maß reduziert hatte. »Ganz sicher haben ihre Eltern ihnen eingebläut, was sie zu sagen haben.«
»Das denke ich auch«, pflichtete Pia ihrem Chef bei. Aus dem Höchster Krankenhaus waren keine guten Nachrichten gekommen. Der sechzehnjährige Alexander war noch immer nicht ansprechbar und wurde künstlich beatmet. Die Ärzte hielten eine Hirnschädigung aufgrund von Sauerstoffmangel für nicht ausgeschlossen.
Auch wenn jede Menge Alkohol im Spiel gewesen war, so war es kein Kavaliersdelikt, einen bewusstlosen Menschen – einen Freund sogar – einfach seinem Schicksal zu überlassen. Ganz sicher waren sie nicht alle so sturzbetrunken gewesen, wie sie behaupteten, denn dann hätten sie nicht so einfach über das hohe Tor klettern können.
Seit dem frühen Morgen klingelten die Telefone in der Einsatzzentrale beinahe pausenlos. Wie immer, wenn die Bevölkerung um Mithilfe gebeten wurde, riefen auch jede Menge Spinner an, die das tote Mädchen an den abstrusesten Orten gesehen haben wollten. Es war eine unerquickliche Arbeit, den vielen Hinweisen nachzugehen, aber möglicherweise war ja auch ein richtiger Tipp dabei – und dann hatte es sich gelohnt. Die Reporter hatten gestern Abend den bisher nicht aufgeklärten Fall eines anderen toten Mädchens im Main aus dem Jahr 2001 erwähnt, und genau darauf ritt die Presse jetzt herum. Um die Öffentlichkeit zu beruhigen und die immer rasch aufkeimende Kritik an der Arbeit der Polizei zu unterbinden, musste ein schneller Ermittlungserfolg her, koste es, was es wolle. Das war Pias Argumentation für die frühzeitige Informierung der Öffentlichkeit gewesen – und Nicola Engel hatte es akzeptiert, genau wie Oberstaatsanwalt Frey am Abend zuvor.
Bodenstein bog auf die A66 Richtung Frankfurt ab, während Pia vergeblich versuchte, Alina ans Telefon zu bekommen. Ihr Vater verleugnete seine Tochter.
»Diese Lügerei kotzt mich an«, knurrte Pia verärgert. »Wenn es ihr Kind gewesen wäre, das bewusstlos auf der Intensivstation liegt, dann würden sie uns jetzt Feuer unterm Hintern machen.«
»Ich finde es vor allen Dingen im höchsten Maße bedenklich, wenn Eltern ihren Kindern vorleben, wie einfach es ist, Verantwortung für seine Verfehlungen abzuschütteln«, pflichtete Bodenstein ihr bei. »Dieser Reflex, jegliche Schuld sofort von sich auf andere abzuwälzen, ist ein Indiz für den kompletten Niedergang der Moral unserer Gesellschaft.«
Ostermann rief an.
»Sag mal, Pia, wo hast du den Vorgang Veronika Meissner hingelegt? Ich habe den
Weitere Kostenlose Bücher