Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
hatte sie Florian seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen? War er nicht erst gestern Abend bei ihr und Ralf zu Hause gewesen?
In einer Beziehung wie der ihren, in der man so oft und manchmal auch lange getrennt war, besaß Vertrauen oberste Priorität. Emma vertraute ihrem Mann, Eifersucht war ihr fremd. Niemals zweifelte sie an etwas, was er ihr erzählte. Aber plötzlich züngelte eine winzige Flamme des Misstrauens in ihrem Inneren empor und setzte sich in ihrem Kopf fest. Der bloße Verdacht, dass er sie angelogen haben könnte, erweckte ein seltsam leeres Gefühl in ihr.
Emma setzte sich langsam in Bewegung.
Sicher gab es eine ganz simple Erklärung dafür, dass Corinna Florian gestern nicht gesehen hatte. Es war schließlich schon sehr spät gewesen, als Florian das Haus verlassen hatte. Vielleicht hatte Corinna nach einem harten Arbeitstag schon im Bett gelegen.
Ja, genauso konnte es gewesen sein. Wieso sollte Florian sie anlügen?
*
Er beendete das Telefonat und starrte auf den Fernsehbildschirm. Rot-weiße Absperrbänder der Polizei, davor grimmig dreinschauende Polizeibeamte, die Schaulustige davon abhalten sollten, den Ort des Verbrechens zu betreten. Noch immer waren Beamte der Spurensicherung im Einsatz, suchten nach tatrelevanten Spuren, die sie dort niemals finden würden. Nicht in Eddersheim. Die Staustufe lag nur ein paar Kilometer flussabwärts von hier. Er wusste, wo das war.
Schnitt.
Das Gebäude der Frankfurter Rechtsmedizin in der Kennedyallee. Davor eine Reporterin, die mit ernster Miene in die Kamera sprach. Man blendete ein Bild des toten Mädchens ein, und er musste schlucken. So hübsch, so blond und so … tot. Ein zartes junges Gesicht mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen, die nie mehr lachen würden. In der Rechtsmedizin hatte man sich offenbar große Mühe gegeben. Sie sah nicht wirklich tot aus, sondern nur so, als ob sie schliefe. Nur Sekunden später blickte sie ihn aus großen Augen beinahe vorwurfsvoll an. Sein Herz machte einen erschrockenen Satz, bis er begriff, dass es sich um Gesichtsrekonstruktionen handelte, eine Computeranimation, doch der Effekt war unglaublich realistisch.
Er tastete nach der Fernbedienung und stellte den Ton wieder an.
»… ihr Alter auf etwa fünfzehn oder sechzehn geschätzt. Bekleidet war das Mädchen mit einem Jeansminirock und einem gelben Oberteil mit Spaghettiträgern Größe 34 der Marke H&M. Wer hat dieses Mädchen gesehen oder kann Hinweise auf ihren Aufenthaltsort in den letzten Tagen oder Wochen geben? Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.«
Ein wenig verwunderte ihn die Tatsache, dass die Polizei schon so bald nach Auffinden der Leiche die Bevölkerung um Mithilfe ersuchte. Offenbar hatten die Bullen keine blasse Ahnung, um wen es sich bei dem Mädchen handelte und hofften auf Kommissar Zufall.
Leider – das wusste er seit dem Telefonat von eben – würde es mit ziemlicher Sicherheit keinen einzigen sachdienlichen Hinweis geben, der zu einer Aufklärung führen konnte. Jeder Wichtigtuer würde sich genötigt sehen, bei der Polizei anzurufen, um zu behaupten, das Mädchen irgendwo gesehen zu haben, und die Bullen mussten dann Hunderten unnützer Hinweise nachgehen. Welch absolut sinnlose Zeitverschwendung und Blockierung wichtiger Ressourcen!
Er wollte den Fernseher gerade ausschalten, um zur Arbeit zu fahren, als das Gesicht eines Mannes auf dem Bildschirm erschien. Der Anblick ließ ihn zusammenzucken. Eine Flutwelle lang verdrängter Gefühle schoss aus seinem tiefsten Inneren empor. Er zitterte.
»Du Dreckschwein«, murmelte er und fühlte den vertrauten hilflosen Zorn und die alte Verbitterung in sich aufsteigen. Seine Hand krampfte sich so fest um die Fernbedienung, dass das Batteriefach zerbrach und die Batterien heraussprangen. Er bemerkte es nicht einmal.
»Wir stehen noch ganz am Anfang der Ermittlungen«, sagte Oberstaatsanwalt Dr. Markus Maria Frey. »Bevor allerdings das Ergebnis der Obduktion nicht feststeht, können wir noch nicht sagen, ob es sich um einen Unglücksfall, einen Suizid oder gar einen Mord handelt.«
Das kantige Kinn, dunkles, straff nach hinten gekämmtes und von ersten grauen Strähnen durchzogenes Haar, die einfühlsame, kultivierte Stimme und braune Augen, die so täuschend vertrauenerweckend und freundlich wirkten. Doch das war sein Trick. Don Maria, wie er insgeheim bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft genannt wurde, war ein Mann mit zwei Gesichtern: mit
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