Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
Pia der Geduldsfaden.
»Raus jetzt!«, fauchte sie. »Warte gefälligst draußen. Ich komme gleich!«
Die kleine Hexe streckte ihr die Zunge heraus und zog den Vorhang ganz zur Seite, um sie zu ärgern. Zwei schmalhüftige junge Gazellen in Size-Zero-Tops starrten Pia an und kicherten blöd.
Pia verfluchte in Gedanken Miriams Oma mit ihrem dämlichen Wohltätigkeitsfest und danach sich selbst, weil sie überhaupt zugesagt hatte, nach Frankfurt zu fahren. Der Anblick des Kleides besänftigte sie etwas. Es passte und sah gut aus, dazu war es nicht zu teuer.
Als sie aus der Umkleidekabine trat, war Lilly weit und breit nicht zu sehen. Wahrscheinlich versteckte sie sich irgendwo zwischen den Kleiderständern, um sie zu ärgern. Pia ging zur Kasse und stellte sich bei der Schlange an, die ihr kürzer erschien. Eine Fehlentscheidung, wie sich herausstellte, denn eine Kundin vor ihr hatte vierzehn Teile gekauft und ihre EC -Karte funktionierte nicht. Nervös hielt Pia Ausschau nach dem Mädchen. Endlich konnte sie zahlen. Sie klemmte die Tüte unter den Arm und machte sich auf die Suche nach Lilly.
Weder in der Abteilung für Damenbekleidung noch in der Herrenabteilung war das kleine Aas zu finden! Sie fragte eine Verkäuferin nach den Kundentoiletten, die sich im Untergeschoss befanden, und fuhr mit der Rolltreppe nach unten. Aber auch dort war Lilly nicht. Allmählich verwandelte sich Pias Verärgerung in Sorge. Sie war es nicht gewohnt, Verantwortung für ein Kind zu haben. Nachdem sie den ganzen Laden vergeblich abgesucht und jede Verkäuferin nach einem kleinen Mädchen mit blonden Zöpfen gefragt hatte, ging sie hinaus. Menschenmassen wälzten sich durch die Einkaufspassage. Wie sollte sie in diesem Gedränge bloß das Mädchen finden? Ihr wurde heiß. Sie dachte an Fälle, in denen Kinder in Einkaufszentren spurlos verschwanden, weil sie vertrauensselig mit irgendeinem Fremden mitgingen, der ihnen ein Eis oder ein Spielzeug versprach.
Hektisch hastete sie in das Geschäft für Billigschmuck, in dessen Schaufenster Lilly vorhin eine rosa Perlenkette gesehen hatte, die sie unbedingt haben wollte. Keine Spur von ihr. Niemand wollte sie gesehen haben. Auch nicht in der Eisdiele, nicht in der DVD -Abteilung vom Media Markt im ersten Stock. Voller Panik rannte Pia zurück zum Springbrunnen. Sie rempelte fremde Leute unhöflich an und musste sich Beschimpfungen gefallen lassen. Zuerst hatte sie sich noch ausgemalt, dass sie Lilly ausschimpfen würde, aber nach einer halben Stunde betete sie nur noch stumm, das Kind unversehrt wiederzufinden.
Vor dem Infohäuschen wartete eine Menschenschlange.
»Bitte, würden Sie mich vorlassen?«, keuchte sie. »Ich suche ein Kind, das mir hier im Gedränge abhandengekommen ist.«
Die meisten waren verständnisvoll und ließen sie vor, bis auf zwei Omas, die stur darauf beharrten, ihre Anliegen seien wichtiger als ein verschwundenes Kind. In aller Seelenruhe kaufte die eine drei Einkaufsgutscheine, die andere fragte nach irgendeinem Laden und verstand nicht, was die Tante an der Information ihr erklären wollte. Endlich war Pia an der Reihe.
»Könnten Sie bitte meine …« Sie hielt inne. Ja, was war Lilly? Könnten Sie bitte die Enkeltochter meines Lebensgefährten ausrufen? Wie blöd klang das denn.
»Ja, bitte?« Die pummelige Transuse am Infoschalter glotzte gelangweilt durch sie hindurch und kratzte sich mit ihren buntlackierten Krallen ungeniert im Dekolleté.
»Ich habe …«, begann Pia ein zweites Mal, entschied sich dann für die unkomplizierteste Variante.
»Meine Tochter ist verloren gegangen«, stieß sie hervor. »Könnten Sie sie bitte ausrufen?«
»Wie heißt sie?«, fragte die Dicke pomadig. »Wo soll sie hinkommen?«
»Sie heißt Lilly. Lilly Sander.«
»Wie?«
Mensch, war die blöd!
»L-I-L-L-Y«, buchstabierte Pia ungeduldig. »Sie soll zum Springbrunnen kommen. Oder nein, warten Sie – am besten zur Eisdiele. Sie kennt sich hier nicht aus.«
Endlich schaffte die Kuh es, eine halbwegs verständliche Durchsage zu machen, aber Pia bezweifelte, dass Lilly verstand, dass sie gemeint war.
»Danke«, sagte sie und ging hinüber zur Eisdiele, um Ausschau zu halten. Was konnte sie sonst noch tun? Ihre Knie zitterten, ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihr wurde bewusst, dass dieses Gefühl Angst war. Pia zwang sich, nicht darüber nachzudenken, was einem hübschen, blonden, siebenjährigen Mädchen alles zustoßen konnte.
Zum ersten Mal in ihrem
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