Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
Leben begriff sie, was in den Eltern verschwundener Kinder wirklich vor sich gehen mochte. Hilflosigkeit und Ungewissheit waren die reinste Hölle. Wie entsetzlich musste es erst sein, diese Gefühle über Wochen, Monate oder gar Jahre ertragen zu müssen? Und sie verstand nun auch, wie wenig tröstlich es für Eltern war, wenn die Polizei ihnen versicherte, man werde alles Menschenmögliche tun, um ihr Kind zu finden.
In jedem blonden Kind meinte Pia Lilly zu erkennen. Ihr Herz machte jedes Mal einen Satz, dann folgte die Enttäuschung, die ihr die Tränen der Verzweiflung in die Augen trieb. Die Menschen schoben sich träge an ihr vorbei, und irgendwann konnte Pia das Warten und die Untätigkeit nicht mehr ertragen. Sie lief einfach los. Musste auf eigene Faust suchen, sonst wäre sie durchgedreht. All die hohlen Ratschläge zur Besonnenheit, die sie selbst Eltern verschwundener Kinder schon gegeben hatte, waren vergessen. Mit Tasche und Einkaufstüte bepackt lief sie in jeden Laden, in dem sie mit Lilly gewesen war. Sie ging noch einmal in die Eisdiele, in den Billigschmuckladen, in das Geschäft für Dekomaterialien, in dem Lilly irgendein Stofftier gesehen hatte. Zum Schluss war der Media Markt ein zweites Mal dran. Sie fragte zig Leute nach Lilly, aber wieder wollte niemand das Kind bemerkt haben.
Schließlich beschloss sie, die Einkaufstüte zum Auto zu bringen und dann ohne Gepäck ein weiteres Mal zu suchen. Auf dem Weg zum Parkhaus überlegte sie, die Kollegen von der Streife einzuschalten. Wenn Polizisten in Uniform Fragen stellten, nahmen die Leute sie meistens ernster, als wenn eine verschwitzte, panische Frau das tat.
Was sollte sie bloß Christoph sagen? Sie konnte unmöglich ohne das Mädchen nach Hause fahren! Pia kramte den Autoschlüssel aus ihrer Tasche. Sie blickte auf und traute ihren Augen nicht. Am Hinterreifen ihres Autos kauerte Lilly, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen.
»Pia!«, rief sie und sprang auf. »Wo warst du denn so lange?«
Mit Donnergepolter stürzte Pia die komplette Eiger Nordwand vom Herzen. Ihre Knie waren plötzlich butterweich, und sie fing vor Erleichterung an zu heulen. Sie ließ Tasche, Einkaufstüte und Autoschlüssel fallen und schloss das Mädchen fest in die Arme.
»Großer Gott, Lilly! Hast du mir einen Schrecken eingejagt!«, flüsterte sie. »Ich hab dich im ganzen Einkaufszentrum gesucht!«
»Ich musste so dringend aufs Klo.« Lilly schlang ihre Ärmchen um Pias Hals und schmiegte ihre Wange an ihre. »Und dann hab ich dich nicht mehr gefunden. Ich … ich hab gedacht, du … du bist böse auf mich und ohne mich weggefahren …«
Die Kleine schluchzte auch.
»Ach, Lilly, Süße, das würde ich doch niemals tun.« Pia streichelte ihr Haar und wiegte sie in ihren Armen, am liebsten hätte sie das Mädchen gar nicht mehr losgelassen. »Was hältst du davon, wenn wir auf den Schreck jetzt zuerst ein Eis essen und dann noch ein Kleid für dich kaufen, hm?«
»Oh ja.« Unter den Tränen schimmerte ein Lächeln. »Eis finde ich gut.«
»Na, dann komm.« Pia stand auf. Lilly hielt ihre Hand ganz fest.
»Ich lass dich auch nie mehr los«, versprach sie.
*
Nach einer Viertelstunde war der Fall vom Tisch, Behnkes Versuch, seinen früheren Chef zu diskreditieren, kläglich gescheitert. Anhand der vorliegenden Protokolle und Berichte hatte Bodenstein einwandfrei nachweisen können, dass er den Verdachtsmomenten gegen drei Verdächtige im Fall der gefährlichen Körperverletzung an Friedhelm Döring im Jahr 2005 gründlich nachgegangen war, bevor er die Ermittlungen aus Mangel an Beweisen hatte einstellen müssen.
Die dreiköpfige Kommission des Dezernats für Interne Ermittlungen war zufrieden, Bodenstein und Dr. Nicola Engel waren entlassen. Behnke hatte stumm dagesessen, rot im Gesicht und kochend vor Zorn wie ein Dampfkochtopf; es hätte Bodenstein nicht gewundert, wäre plötzlich ein schrilles Pfeifen aus seinen Ohren gekommen.
Während Nicola Engel noch mit dem Koordinator des Präsidialbüros, dem die Abteilung Interne Revision unterstand, sprach, wartete Bodenstein draußen auf dem Flur und nutzte die Zeit, um sein iPhone zu checken. Keine wichtigen neuen Nachrichten. Er war froh, dass die ganze Sache so rasch über die Bühne gegangen war, denn er hätte sich nur ungern zu dem Notartermin verspätet. Mit dem pleitegegangenen Bauherrn der Doppelhaushälfte in Ruppertshain war er sich letzte Woche einig geworden, und tags zuvor hatte er
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