Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
und es hatte sie nicht einmal erschüttert, als Meike ihr vor ein paar Tagen verkündet hatte, sie werde für den Rest der Ferien in die Wohnung einer Freundin, die den Sommer in Chile oder China verbrachte, nach Sachsenhausen ziehen. Alles, was ihr früher so unglaublich wichtig erschienen war, war nebensächlich geworden. Seit jenem Abend in der Küche ihrer Therapeutin war etwas mit ihr geschehen, etwas, das sie selbst kaum fassen konnte.
»Das Thema ist hochbrisant. Die Person, um die es geht, will zwar anonym bleiben, aber das wäre kein Problem.« Sie zog ein paar Blätter aus ihrer Tasche und hielt sie Wolfgang hin. Als er danach greifen wollte, zog sie die Hand zurück. »Es ist top secret, Wolfgang. Ich vertraue dir, dass du mit keiner Menschenseele darüber sprichst.«
»Natürlich nicht«, versicherte er und tat ein bisschen beleidigt. »Ich habe noch nie mit jemanden über das gesprochen, was du mir anvertraut hast.«
Sie gab ihm die vier engbedruckten Blätter, und er begann zu lesen.
Es fiel ihr schwer, ihre Ungeduld zu zügeln.
Lies doch schneller, dachte sie. Sag endlich was!
Aber er blieb stumm, seine Miene ausdruckslos. Das einzige äußerliche Zeichen seiner Emotionen war eine scharfe Falte an seiner Nasenwurzel, die sich vertiefte, je länger er las.
Hanna musste sich beherrschen, um nicht mit der Handfläche auf den Tisch zu klopfen.
Endlich hob er den Blick.
»Und?«, fragte sie erwartungsvoll. »Habe ich dir zu viel versprochen? Die Story ist purer Sprengstoff! Dahinter steht eine menschliche Tragödie von geradezu apokalyptischen Ausmaßen! Und das alles sind keine vagen Verdachtsmomente, ich habe mit den meisten Betroffenen persönlich gesprochen! Sie haben mir konkrete Namen genannt, Orte, Daten, Fakten! Du kannst dir vorstellen, dass ich das zuerst alles gar nicht glauben konnte! Kombiniert mit einer großen Pressekampagne gibt das Einschaltquoten, wie wir sie seit Jahren nicht mehr hatten!«
Wolfgang schwieg noch immer. Eloquenz war nicht seine Stärke. Manchmal brauchte er Minuten, um sein Anliegen umständlich in Worte zu fassen, so dass sie sich oft dämlich vorkam, weil sie so schnell und so viel redete, ihn zu früh unterbrach und dann schon zehn Gedanken weiter war, bis er auf die ursprüngliche Frage antwortete.
»Hanna, ich will dir nicht zu nahe treten, aber wenn du mich fragst, dann ist das Thema als solches … abgedroschen. Das gab und gibt es doch dauernd in der Presse«, sagte er nach einer enervierend langen Pause. »Glaubst du wirklich, dass das noch jemanden interessiert?«
Ihre erwartungsvolle Anspannung fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus, als sie die Skepsis in seinen Augen erkannte. Sie war maßlos enttäuscht, gleichzeitig ärgerte sie sich. Über ihn, aber vor allen Dingen über sich selbst. Wieder einmal war sie zu voreilig gewesen, zu euphorisch.
»Ja, das glaube ich. Außerdem bin ich der Meinung, dass dieses Thema gar nicht oft genug ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geholt werden kann.« Sie streckte die Hand aus und bemühte sich, ihre Stimme gleichmütig klingen zu lassen. »Es tut mir leid, dass ich dir wertvolle Zeit gestohlen habe.«
Er zögerte, machte keine Anstalten, ihr die Blätter zu reichen, stattdessen legte er sie auf die Tischplatte und ordnete sie, bis sie einen akkuraten Stapel bildeten.
»Letztlich ist es deine Entscheidung, welche Themen du in deiner Sendung behandelst.« Wolfgang lächelte. »Aber du wolltest ja meinen Rat, also gebe ich ihn dir.« Er wurde ernst. »Mach es nicht.«
»Wie bitte?« Sie glaubte, sich verhört zu haben. Was fiel ihm ein?
Er senkte rasch den Blick, doch sie hatte den seltsamen Ausdruck bemerkt. Zwischen seinen Augenbrauen standen Furchen der Anspannung. Was war es, was ihn so aufwühlte?
»Als dein Freund rate ich dir, diese Story nicht zu bringen«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Das ist eine brisante Sache. Du hast keine Ahnung, worauf du dich da einlässt. Ich habe ein ungutes Gefühl. Wenn das stimmt, was da steht, dann sind Leute in die Angelegenheit involviert, die es sich nicht einfach gefallen lassen werden, mit so etwas in Verbindung gebracht zu werden.«
»Fürchtest du um die Reputation des Senders?«, wollte Hanna wissen. »Hast du Angst vor Unterlassungsklagen? Oder was ist es?«
»Nein«, erwiderte er. »Ich mache mir Sorgen um dich. Du schätzt das nicht richtig ein.«
»Wir fassen seit Jahren heiße Eisen an«, widersprach Hanna. »Das zeichnet meine Sendung
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