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Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)

Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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neulich irgendwo gelesen oder einfach deshalb, weil es eine Alliteration war, die man sich leicht merken konnte.
    »Hanna Herzmann«, sagte er. »Die Fernsehmoderatorin.«
    *
    Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank aus hellem Furnierholz. Ein kleines Fenster, vergittert natürlich. In einer Ecke ein Klo ohne Deckel, ein Waschbecken, darüber ein Spiegel aus Metall. Der Geruch nach Desinfektionsmittel. Acht Quadratmeter, die nun für die nächsten dreieinhalb Jahre seine ganze Welt sein würden.
    Die schwere Tür schloss sich mit einem dumpfen Knall hinter ihm, er war allein. Es war so still, dass er seinen Puls in den Ohren pochen hörte, und ihn überkam das verzweifelte Verlangen, zu seinem Handy zu greifen und jemanden anzurufen, irgendjemanden, nur, um eine menschliche Stimme zu hören. Aber er hatte kein Handy mehr. Keinen Computer. Keine eigene Kleidung. Seit heute war er Befehlsempfänger, Gefangener, auf Gedeih und Verderb den Launen und Reglementierungen gleichgültiger Gefängniswärter ausgeliefert. Er konnte nicht mehr tun, was er wollte, der Rechtsstaat hatte ihm das Privileg, frei über sein Leben zu verfügen, entzogen.
    »Das halte ich nicht aus«, dachte er.
    Seit jenem Tag, an dem die Kriminalpolizei mit einem Hausdurchsuchungsbeschluss aufgetaucht, sein Haus und sein Büro auf den Kopf gestellt und seine Computer beschlagnahmt hatte, befand er sich in einem Schockzustand. Er erinnerte sich an Brittas Fassungslosigkeit, die Abscheu in ihren Augen, als sie ihm die Koffer vor die Tür gestellt und geschrien hatte, sie wolle ihn nie wiedersehen. Am nächsten Tag war ihm die einstweilige Verfügung zugestellt worden, die ihm verbot, seine Kinder zu sehen. Freunde hatten sich von ihm abgewandt, seine Mitarbeiter, seine Partner. Und schließlich hatte man ihn festgenommen. Flucht- und Verdunklungsgefahr. Keine Kaution.
    Die hinter ihm liegenden Wochen, die U-Haft, der Prozess – das alles war ihm vollkommen unwirklich erschienen, ein wirrer Traum, aus dem er irgendwann aufwachen würde. Als die Richterin gestern das Urteil verlesen und er begriffen hatte, dass man ihn tatsächlich für sechsunddreißig Monate ins Gefängnis schicken und seine Kinder, das Liebste, das er auf der Welt hatte, zwölf und zehn Jahre alt sein würden, wenn er sie das nächste Mal sehen durfte, da hatte er noch geglaubt, er sei stark genug, um das alles zu ertragen und damit fertig zu werden. Er hatte die Fassung bewahrt, als man ihn in Handschellen durch das Blitzlichtgewitter der sensationsgierigen Pressemeute aus dem Schwurgerichtssaal geführt hatte, in dem er Jahre seines Lebens auf der anderen, der richtigen Seite verbracht hatte.
    Selbst das demütigende Procedere der völligen Entrechtung, das einen Neuzugang im Knast erwartete, hatte er ohne äußere Gefühlsregung hinter sich gebracht, ebenso die ärztliche Untersuchung. Noch als er die abgetragene, raue Anstaltskleidung, die vor ihm schon viele andere Männer getragen hatten, angezogen, der Beamte mit gleichgültiger Miene seine eigene Kleidung in einen Kleidersack gestopft und ihm Armbanduhr und Brieftasche abgenommen hatte, hatte sich sein Verstand geweigert, die Unabänderlichkeit seiner Situation zu akzeptieren.
    Er wandte sich um und starrte die zerkratzte Zellentür an. Eine Tür ohne Klinke und Schloss, die er niemals selbst öffnen würde. In dieser Sekunde überfiel ihn die Erkenntnis, dass dies nun die Realität war und er nicht aus einem Alptraum aufwachen würde, mit gallebitterer Klarheit. Seine Knie wurden weich, sein Magen rebellierte. Plötzlich verspürte er nackte, panische Angst. Vor dem Alleinsein und der Hilflosigkeit. Vor den anderen Gefangenen. Als verurteilter Kinderschänder rangierte er in der Knasthierarchie ganz weit unten, deshalb hatte man ihn zu seiner eigenen Sicherheit in eine Einzelzelle gesteckt.
    Er hatte die Kontrolle über sein Leben verloren und konnte nichts dagegen tun. Sein selbstbestimmtes Leben gehörte der Vergangenheit an, seine Ehe lag in Trümmern, sein Ruf war unwiederbringlich zerstört. Alles, was ihn, seine Persönlichkeit und sein Leben ausgemacht hatte, seine ganze Identität, war mit Hemd, Anzug und Schuhen in einem grünen Kleidersack verschwunden.
    Ab heute war er nur noch eine Nummer. Für eintausendundachtzig endlos lange Tage.
    Das Schrillen der Glocke riss ihn aus dem Tiefschlaf. Sein Herz klopfte heftig, er war nassgeschwitzt und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er geträumt hatte.

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