Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
Dieser Traum, der ihn lange nicht mehr heimgesucht hatte, war so bedrückend realistisch, dass er das Quietschen der Gummisohlen auf dem grauen Linoleum hören und den unverwechselbaren Knastgeruch nach Pisse, Männerschweiß, Essen und Desinfektionsmittel riechen konnte.
Mit einem Stöhnen richtete er sich auf und ging zum Tisch, um das Handy zu suchen, dessen Klingeln ihn geweckt hatte. Es war heiß und stickig im Wohnwagen, die verbrauchte Luft zum Schneiden dick. Eigentlich hatte er nur eine kurze Pause machen wollen, aber dann war er wohl tief und fest eingeschlafen. Seine Augen brannten und sein Rücken schmerzte. Bis zum Morgengrauen hatte er sich durch Unmengen von Aufzeichnungen, Zeitungsartikeln, Tonbändern, Gesprächsnotizen, Sitzungsprotokollen und Tagebucheinträgen gelesen und Notizen gemacht. Es war alles andere als einfach, die wichtigsten Fakten herauszufiltern und in einen sinnvollen Kontext zu bringen.
Er fand das Handy unter einem Berg von Papier. Nur ein paar Anrufe, aber zu seiner Enttäuschung nicht der, auf den er so sehr wartete. Mit einem Mausklick weckte er den Laptop aus seinem Stand-by-Schlaf, gab das Passwort ein und schaute in sein E-Mail-Postfach. Auch hier nichts. Die Enttäuschung strömte durch seinen Körper wie schleichendes Gift. Was war bloß los? Hatte er irgendetwas falsch gemacht?
Er stand auf und ging zum Schrank. Zögerte einen Augenblick, bevor er die Schublade aufzog. Zwischen den T-Shirts ertastete er das Foto und zog es hervor. Die dunklen Augen. Das blonde Haar. Das süße Lächeln. Eigentlich hätte er das Foto entsorgen müssen, aber er brachte es einfach nicht übers Herz. Die Sehnsucht nach ihr schmerzte wie ein Messerstich. Und es gab absolut nichts, was diesen Schmerz lindern konnte.
*
»Sie haben das Ziel erreicht«, verkündete die Stimme des Navigationsgeräts. »Das Ziel befindet sich auf der linken Seite.«
Meike bremste ab und blickte sich ratlos um.
»Wo denn?«, murmelte sie und nahm ihre Sonnenbrille ab. Sie befand sich inmitten eines Waldes. Nach der gleißenden Helle erkannte sie zunächst nichts anderes als Bäume und Unterholz, dichtes, dunkles Grün, hier und da gesprenkelt von goldenen Sonnenflecken. Doch auf einmal nahm sie einen geschotterten Waldweg wahr und einen Briefkasten aus Blech, wie sie ihn aus amerikanischen Filmen kannte. Entschlossen setzte Meike den Blinker, bog in den Weg ein und holperte einen gewundenen Waldweg entlang. Ihre Spannung wuchs. Wer war BP ? Und wer K? Was erwartete sie wohl am Ende des Waldweges? Sie passierte die letzten Baumreihen. Das grelle Licht knallte ihr entgegen und blendete sie. Hinter einer Kurve tauchte zu ihrer Verblüffung unversehens eine wahre Festung auf. Ein Metalltor mit Überwachungskameras, ein blickdichter Zaun gekrönt von einem Stacheldrahtverhau. Warnschilder verhießen dem ungebetenen Besucher drohende Verstümmelung durch bissige Hunde, Starkstrom und Minen.
Was zum Teufel war das denn? Paramilitärisches Sperrgebiet mitten im Main-Kinzig-Kreis? Welcher Art Story war ihre Mutter da auf der Spur? Meike legte den Rückwärtsgang ein und fuhr die Schotterpiste, die sie gekommen war, zurück, bis sie eine Abzweigung erreichte. Der Weg schien nur selten benutzt zu werden, aber er führte in die Richtung, in die sie wollte. Als sie weit genug vom Hauptweg entfernt war, damit niemand das auffällige rote Auto sah, kramte sie das Fernglas aus dem Handschuhfach, schloss das Dach und ging zu Fuß weiter. Nach ungefähr fünfzig Metern endete der Weg. Meike hielt sich rechts und erreichte wenig später den Waldrand. Das Metalltor befand sich ein ganzes Stück entfernt, hier war sie außer Reichweite der Kameras, die sich nur oberhalb des Tors befanden. Ein Stück weiter erblickte Meike einen Hochsitz am Rande einer Tannenschonung. Zum Glück trug sie Jeans und Turnschuhe, denn die Brennnesseln und Disteln wucherten meterhoch. Der Hochsitz schien längere Zeit nicht benutzt worden zu sein, die Holzsprossen der Leiter waren bemoost und sahen morsch aus. Meike tastete sich vorsichtig nach oben und prüfte die Stabilität des Holzsitzes, bevor sie sich darauf niederließ. Tatsächlich hatte sie von hier oben aus eine perfekte Aussicht.
Sie stellte das Fernglas scharf und sah eine Halle, vor deren weit geöffneten Toren mindestens zwanzig Motorräder standen, lauter schwere chromblitzende Maschinen, vorzugsweise Harley Davidsons, aber auch zwei oder drei Royal Enfields. Daneben befand sich,
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