Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
gewesen, als sie ihm gesagt hatte, was Hanna zugestoßen war, und nachdem sie ihm noch von ihrer Begegnung mit den Rockern und dem Kampfhund erzählt hatte, hatte er ihr angeboten, vorübergehend bei ihm zu wohnen. Meike hatte sich gefreut, jedoch höflich abgelehnt. Sie war zu alt, um sich irgendwo zu verkriechen.
Sie stemmte die Füße gegen die Balkonbrüstung. Nachdem die Bullen gestern abgezogen waren, hatte sie das Arbeitszimmer ihrer Mutter durchsucht. Vergeblich. Der Laptop war spurlos verschwunden, ebenso das Smartphone. Ihr Blick wanderte über die Fassade des gegenüberliegenden Hauses. Die meisten Fenster waren weit geöffnet, um bei der Hitze wenigstens etwas frische Nachtluft in die Wohnungen zu lassen. Alles war dunkel, bis auf ein Fenster im dritten Stock, hinter dem es bläulich schimmerte. Ein Mann saß am Schreibtisch an seinem PC , nur mit einer Unterhose bekleidet.
»Natürlich!« Meike sprang auf. Der PC in Hannas Büro! Warum hatte sie nicht eher daran gedacht? Sie zog sich in Windeseile an, schnappte ihren Rucksack und den Schlüsselbund und verließ die Wohnung. Der Mini stand ein paar Straßen weiter, weil sie am Abend mal wieder keinen Parkplatz gefunden hatte. Sie war zu Fuß schneller in der Hedderichstraße, als wenn sie erst das Auto holte.
Die Zeit zwischen zwei und drei Uhr morgens war die stillste Stunde der ganzen Nacht. Nur hin und wieder begegnete ihr ein Auto, an der Straßenbahnhaltestelle Brückenstraße Ecke Textorstraße hockten zwei Penner, die ihr weinselig hinterher grölten. Meike beachtete sie nicht und ging mit schnellen Schritten weiter. Eine Stadt bei Nacht war immer unheimlich, auch wenn die Straßen hell erleuchtet waren und potentielle Vergewaltiger um diese Uhrzeit wohl auch tief und fest schliefen. Außerdem hatte sie in ihrer Umhängetasche griffbereit Pfefferspray und den Elektroschocker mit 500 000 Volt, den sie gestern aus dem Langenhainer Haus mitgenommen und mit einer neuen Batterie versehen hatte. Vinzenz’ Vorgänger Marius, Hannas Ehemann Nummer drei, hatte ihn damals in der für ihn typischen überbordenden Fürsorglichkeit für Hanna gekauft, als ihr dieser irre Stalker überall aufgelauert hatte, aber sie hatte das Gerät nie bei sich getragen. Ob sie der Elektroschocker Donnerstagnacht vor dem Überfall bewahrt hätte, hätte sie ihn dabeigehabt? Meikes Finger schlossen sich fester um den Griff des Gerätes, als ihr ein Mann entgegenkam. Sie würde keine Sekunde zögern, es zu benutzen.
Eine Viertelstunde später schloss sie die Tür des Bürogebäudes mit dem Zentralschlüssel auf. Der Aufzug war nachts abgestellt, deshalb musste sie die Treppe in den fünften Stock nehmen.
Das Passwort von Hannas PC kannte sie, ihre Mutter änderte es nie und benutzte seit Jahren immer dieselbe Buchstaben-Zahlen-Kombination für alle Logins, leichtsinnigerweise sogar beim Onlinebanking. Meike setzte sich hinter den Schreibtisch, schaltete die Lampe ein und ließ den Computer hochfahren. Es bedurfte ihrer ganzen Konzentration, nicht an die Mutter zu denken. Auf diese Weise, so besänftigte sie ihr schlechtes Gewissen, konnte sie ihr mehr helfen, als wenn sie im Krankenhaus an ihrem Bett saß.
Vor den Fenstern graute der Morgen herauf. Hanna bekam Unmengen von Mails, Meike überflog die Absender und scrollte weiter. Das letzte Mal hatte die Mutter am Donnerstag um 16:52 Uhr Mails abgerufen, seitdem waren 132 neue Nachrichten eingegangen. Herrje, sie konnte unmöglich alle lesen! Meike verlegte sich darauf, die Betreffzeilen zu lesen, aus den Namen der Absender wurde sie nicht schlau.
Es war eine Nachricht vom 16. Juni, die ihre Aufmerksamkeit erregte. Re: Unser Gespräch , stand im Betreff. Der Absender war eine Leonie Verges. Dieser Name löste in Meikes Kopf irgendeine vage Erinnerung aus. Es war noch nicht lange her, dass sie ihn gehört hatte – aber in welchem Zusammenhang?
Hallo, Frau Herzmann , las sie. Meine Patientin ist unter gewissen Umständen dazu bereit, mit Ihnen persönlich zu sprechen, allerdings wird sie nicht öffentlich in Erscheinung treten. Die Gründe hierfür sind Ihnen ja bekannt. Ihre Bedingung ist, dass ihr Mann und Dr. Kilian Rothemund bei dem Gespräch, das bei mir stattfinden soll, anwesend sind. Ich lasse Herrn Rothemund wie besprochen die Unterlagen zukommen, bitte setzen Sie sich mit ihm in Verbindung, um sie bei ihm einzusehen. MfG Leonie Verges.
Meike runzelte die Stirn. Patientin? War ihre Mutter etwa einem
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