Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
Bodenstein hatte sich ein paar Notizen gemacht. »Können Sie den Mann beschreiben? Oder seinen Roller?«
»Ja, das kann ich. Er ist ja keine zehn Meter an mir vorbeigegangen und hat mir noch ganz höflich zugenickt. Hm, er war so um die Mitte vierzig, schätze ich. Gepflegt, sehr schlank, etwa eins achtzig groß. Kurzes Haar, dunkelblond, schon etwas grau. Am auffälligsten waren seine Augen. Ich habe noch nie so unglaublich blaue Augen gesehen.«
»Sie sind eine gute Beobachterin«, sagte Bodenstein. »Würden Sie den Mann wiedererkennen?«
»Ganz sicher«, bestätigte Frau Maisel. »Aber das war noch nicht alles. Ich konnte an dem Abend nicht schlafen. Es war so heiß und unser Sohn das erste Mal allein mit seinem Auto unterwegs. Ich war unruhig wegen des Gewitters und habe mir Sorgen gemacht. Deshalb habe ich immer mal wieder aus dem Fenster geschaut. Von unserem Schlafzimmerfenster kann man direkt auf die Garageneinfahrt von Frau Herzmann schauen. Sie kam um zehn nach eins nach Hause, fuhr wie üblich in ihre Garage.«
Schlagartig war Bodensteins Müdigkeit verflogen. Er richtete sich auf.
»Sind Sie da ganz sicher?«
»Ja. Ich kenne doch das Auto von Frau Herzmann. Sie öffnet ihre Garage immer per Fernbedienung und schließt das Tor auch gleich hinter sich. Sie muss ja nicht mehr raus. Von der Garage aus kann man direkt das Haus betreten.«
»Haben Sie Frau Herzmann erkannt?«, fragte Bodenstein.
»Hm … ich habe ihr Auto erkannt. Es ist ja nun nichts Ungewöhnliches, da schaue ich nicht so genau hin. Eine Viertelstunde später kam unser Sohn, und dann bin ich auch ins Bett gegangen.«
Bodenstein bedankte sich bei der Nachbarin und beendete das Gespräch. Er zweifelte nicht an dem, was sie gesehen hatte, aber ihre Beobachtung war für Bodenstein ein Rätsel. Bisher waren Pia und er davon ausgegangen, dass Hannah etwas auf dem Nachhauseweg zugestoßen war, doch nun hatte es den Anschein, als sei sie erst in ihrem Haus überfallen und vergewaltigt worden. Vinzenz Kornbichler wusste um die Angewohnheiten seiner Frau und auch, dass es einen direkten Zugang vom Haus zur Garage gab. Später musste der Täter Hanna Herzmann in den Kofferraum ihres Autos gelegt und sie nach Weilbach gefahren haben. Aber wie war er anschließend von dort wieder weggekommen? Handelte es sich vielleicht um zwei Täter? Hatte Kornbichler einen Komplizen? Oder waren sie auf der falschen Spur? Vielleicht hatte der tätowierte Hüne, den Kornbichler gesehen haben wollte, etwas damit zu tun?
Bodenstein griff nach dem Telefon und wählte die Handynummer von Christian Kröger. Der meldete sich sofort.
»Habt ihr euch die Garage vom Herzmann-Haus angesehen?«, wollte Bodenstein wissen, nachdem er seinem Kollegen rasch von der Aussage der Nachbarin berichtet hatte.
»Nein«, erwiderte Kröger nach kurzem Zögern. »Verdammt, wieso habe ich nicht an die Garage gedacht?«
»Weil wir nicht geahnt haben, dass das Haus ein Tatort ist.« Bodenstein kannte den Perfektionismus seines Kollegen und wusste, wie sehr es ihn wurmte, etwas Wichtiges übersehen haben zu können.
»Ich fahre jetzt gleich hin«, sagte Kröger entschlossen. »Bevor diese Irre irgendwelche Spuren beseitigt.«
»Wen meinst du?«, fragte Bodenstein leicht irritiert.
»Na, die Tochter. Die hat doch einen Sprung in der Schüssel. Aber wenigstens hat sie mir einen Haustürschlüssel überlassen.«
Bodenstein warf einen Blick auf die Uhr. Gleich Mitternacht, aber er war wieder hellwach und würde ohnehin nicht schlafen können.
»Weißt du was, ich komme auch hin«, sagte er. »Schaffst du es in einer halben Stunde?«
»Wenn du den Bus mitbringst. Sonst muss ich vorher noch mal nach Hofheim.«
*
Seine Finger flogen über die Tastatur des Laptops. Das Gewitter letzte Nacht hatte nur eine kurzfristige Abkühlung gebracht, heute war es schwüler und heißer als vorher. Den ganzen Tag hatte die Sonne unbarmherzig auf den Wohnwagen gebrannt und die Blechbüchse aufgeheizt. Computer, Fernseher und Kühlschrank strahlten noch zusätzlich Wärme aus, aber es machte keinen Unterschied mehr, ob es nun vierzig oder einundvierzig Grad waren. Obwohl er sich kaum bewegte, lief ihm der Schweiß über das Gesicht, tropfte an seinem Kinn herunter auf die Tischplatte.
Ursprünglich hatte er sich mit der Absicht, nur die wichtigsten Fakten aus dem unübersichtlichen Wust an Notizen, Tagebuchaufzeichnungen und Protokollen herauszufiltern, an die Arbeit gemacht, doch dann hatte ihn
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