Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
sie erzählt, sie habe Bauchweh, und das war nicht mal gelogen. Heute hatte sie Mama gesagt, ihr sei schlecht. Und das war auch nicht gelogen. Schon in der Schule war ihr übel gewesen, beim Mittagessen hatte sie kaum einen Bissen herunterbekommen und danach sofort erbrochen. Die Geschwister waren sofort nach dem Mittagessen verschwunden. Heute begannen die Herbstferien und damit das Indianerzeltlager, auf das sie sich alle seit langem gefreut hatten. Auf einer Lichtung im Wald würden sie die Indianerzelte aufbauen, abends um das große Feuer herumsitzen, Würstchen grillen und Lieder singen.
Michaela legte sich ins Bett, ließ die Tür angelehnt und horchte auf die Geräusche im Haus.
Das Telefon klingelte, sie sprang wie elektrisiert auf und rannte aus dem Zimmer, aber – zu spät. Mama war schon unten drangegangen.
»… liegt im Bett … hat erbrochen … weiß auch nicht, was mit ihr los ist … Aha … hm … aha. Danke, dass Sie mir das sagen. Ja, natürlich. Das ist Unsinn. Sie hat eine Phantasie, dass mein Mann und ich manchmal ratlos sind … Ja. Ja, danke. Nächste Woche kommt sie sicher gerne wieder. Der Reitstall ist doch ihr Ein und Alles.«
Sie stand oben an der Treppe, ihr Herz pochte wie verrückt, und ihr war schwindelig vor Angst. Das am Telefon musste Gaby gewesen sein, die sich nach ihr erkundigt hatte! Was hatte sie der Mutter gesagt? Rasch verschwand sie wieder in ihrem Zimmer, zog die Decke über den Kopf. Nichts geschah. Die Minuten verrannen, wurden zu Stunden. Es dämmerte vor den Fenstern.
Jetzt voltigierten die anderen auf Asterix! Wie gerne wäre sie dabei gewesen! Michaela presste ihr Gesicht ins Kopfkissen und schluchzte. Papa kam nach Hause. Sie konnte ihn und Mama unten sprechen hören. Plötzlich ging die Tür auf. Das Licht flammte auf, und ihre Bettdecke wurde weggerissen.
»Was hast du dieser Gaby für einen Unsinn erzählt?« Papas Stimme klang zornig. Ihr Mund war ganz trocken, das Herz klopfte ihr vor Angst bis zum Hals. »Sag schon! Was hast du wieder für Lügenmärchen erzählt?«
Sie schluckte. Warum hatte sie bloß nicht den Mund gehalten? Gaby hatte sie verraten. Vielleicht hatte sie auch Angst vor den Wölfen.
»Komm mit«, sagte Papa. Sie wusste, was nun geschehen würde, hatte es oft genug erlebt. Trotzdem stand sie auf und folgte ihm. Die Treppe hinauf. Auf den Speicher. Er schloss die Tür hinter sich ab, nahm die Reitgerte von einem der Dachbalken. Sie fröstelte, als sie ihre Kleider auszog. Papa packte sie an den Haaren, schleuderte sie auf das alte Sofa, das unter der Dachschräge stand, und begann sie zu schlagen.
»Du verlogenes Miststück!«, zischte er wütend. »Los, dreh dich auf den Rücken! Dir zeig ich’s! So etwas über mich zu erzählen!«
Er prügelte wie von Sinnen auf sie ein, die Gerte pfiff durch die Luft, traf sie zwischen die Beine. Die Tränen strömten ihr über das Gesicht, aber nur ein leises Wimmern kam ihr über die Lippen.
»Ich schlag dich tot, wenn du noch einmal jemandem so was erzählst!« Papas Gesicht war vor Wut verzerrt.
Michaela, die ihren Papa nur fröhlich und liebevoll kannte, war längst nicht mehr da. Schon unten, im Kinderzimmer, war Sandra aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins aufgetaucht. Sandra kam immer, wenn Papa so wütend wurde und sie verprügelte. Sandra konnte das aushalten, die Schläge, die Schmerzen und den Hass. Michaela würde sich morgen nicht daran erinnern, sich nur über die blauen Flecken und die Striemen wundern. Aber sie würde sich niemals mehr jemandem anvertrauen. Michaela war acht Jahre alt.
Samstag, 26. Juni 2010
Die Schrecken des vergangenen Tages hatten sich zu einem furchterregenden Alptraum zusammengebraut: die finsteren Rockertypen, der geifernde Köter, der schießwütige Förster, die Bullen. Vinzenz und Jan hatten irgendeine Rolle gespielt, Meike konnte sich nicht mehr daran erinnern, vor wem oder was sie davongelaufen war, aber sie hatte wie ein Rennpferd nach dem Großen Preis von Baden-Baden geschnauft, als sie morgens um zwei schweißgebadet aufgewacht war. Sie stellte sich unter die Dusche, wickelte sich in ein Badehandtuch und setzte sich auf den kleinen Balkon. Die Nacht war tropisch, an Schlaf nicht mehr zu denken.
Seit gestern grübelte Meike beinahe unablässig darüber nach, woran ihre Mutter wohl gerade gearbeitet haben mochte und ob das mit dem Überfall auf sie zu tun gehabt haben könnte. Auch Wolfgang hatte keinen blassen Schimmer. Er war total geschockt
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