Böses Blut
sich mitten in einem herausgehobenen Augenblick. Es war eine Zeitreise, die einzig mögliche. Die Zeit verging und verging doch nicht. Es war ein Ort für Kontemplation.
Er hatte einen Drink nehmen, Musik hören und ein Buch lesen wollen. Das alles mußte warten.
Und Hypothesen? Sogar die mußten warten. Es ging eher darum, eine Offenheit herzustellen, eine kritische Aufnahmebereitschaft für all die Informationen und all die Eindrücke, die in der neuen Welt unvermeidlich auf sie einströmen würden. Es ging darum, die Fragen am Leben zu erhalten, sie nicht zu schnell zu beantworten. Denn es gab so viele Fragen.
Warum mordet er? Ist der Grund nach der Pause derselbe wie davor? Warum macht er diese fast fünfzehnjährige Pause? Ist es wirklich derselbe Mörder? Warum haben alle das Gefühl, daß er irgendwie doch kein klassischer Serienmörder ist? Warum wurde Lars–Erik Hassel auf dem Flughafen ermordet? Warum fliegt der Mörder nach Schweden? Warum benutzt er den Paß eines Zweiunddreißigjährigen, obwohl er an die Fünfzig sein muß? Wie findet er Gallanos Hütte in Riala? Warum wechselt er im Freihafen den Wagen? Will er möglicherweise sogar, daß Gallanos Leiche über seinen Wagen aufgefunden wird – sogar Lindbergers Leiche ist ja leicht zu finden? Ist es trotz allem so, daß er, wie die meisten Serienmörder, der Öffentlichkeit seine Kunst zeigen will? Warum ermordet er den Angestellten im Außenministerium? Was macht Lindberger mitten in der Nacht im Freihafen? Wo wird er ermordet? Hat der fehlgeschlagene Einbruch im Lager des Computerunternehmens LinkCoop etwas mit dem Fall zu tun? Warum erschießt er John Doe, statt ihn zu foltern? Wer zum Teufel ist dieser John Doe, der in keinem internationalen Archiv auftaucht? Stellen wir die richtigen Fragen?
Die letzte Frage war vielleicht die wichtigste. Gab es eine selbstverständliche Verbindung zwischen all diesen Fragen, etwas, was so selbstverständlich war, daß man es nicht sah, bevor man eine gewisse Höhe erreicht hatte und aus dem glasklaren Sonnenlicht in die Dunkelheit hinunterblickte?
Gerade jetzt hatte er nicht das Gefühl.
Aber sie waren jedenfalls auf dem Weg.
22
Eine Wespe war ins Zimmer gekommen, um zu sterben. Wie sie das Unwetter der letzten Tage überlebt hatte, war ein Rätsel. Vielleicht hatte sie es eher tot als lebendig geschafft, sich in irgendeinem muffigen Hohlraum zu verstecken, dort aber nicht sterben können. Statt dessen kam sie mit gezücktem Stachel heraus, bereit, noch bis zum letzten Augenblick ihres Lebens zu verletzen, bereit, auch nach ihrem eigenen Tod noch zu töten. Eine vom Tod gezeichnete Überlebende, die alle Sinne außer dem sechsten verloren hatte, dem sechsten, dem Mördersinn.
Die Wespe drehte ziellos ein paar Runden unter der Decke, unbeeindruckt von Hitze oder Licht. Sie summte; es war nicht mehr das typische Summen einer Wespe, es war dumpfer, durchdringender. Dann schoß sie herab, ein letzter Kamikaze–Angriff mit gezücktem Stachel. Sie kam näher.
Chavez gab ihr den Gnadentod mit einer präzisen Rückhand. Der vergilbte Expressen schickte die Leiche in die Ecke unter dem pumpenden alten Matrizendrucker; der Stachel stak aus dem zusammengekrümmten Körper heraus. Dort würde das Insekt sicher bis zum nächsten Jahr liegenbleiben, wenn ein leichter Frühlingswind sie als eine Anhäufung von Staub preisgeben würde, die nur aus alter Gewohnheit zusammenhielt.
Ab und zu fixierte er sie, wenn ihm eine blitzartige, aber wortlose Einsicht kam. Für eine kurze Sekunde meinte er, glasklar den Kern des Falls zu erkennen.
Dann kam die Wirklichkeit und überdeckte die Klarheit in Form einer anwachsenden Computerliste, die sich auf dem Boden über der Wespe aufrollte – ein Schwall alltäglicher Routinearbeit verhüllte den genialen Einfall des Detektivs.
Der Drucker hörte auf zu drucken. Chavez stand auf, riß die Liste ab, raufte sich die Haare und betrachtete seine Zukunft wie in einer äußerst trivialen Kristallkugel. Sie zeigte eine Liste dunkelblauer Volvo Kombis mit einer Autonummer, die mit B begann, und die war lang, erstaunlich lang. Er fühlte sich gelangweilt, bevor er überhaupt begonnen hatte.
Es waren sämtliche dunkelblauen Volvo Kombis mit einer Autonummer, die mit B begann, die es in Schweden gab. Er würde damit anfangen, alle zu streichen, die älter als fünfzehn und jünger als fünf Jahre waren. Dann würde er die Auswahl noch weiter einschränken, indem er sich auf
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