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Böses Blut

Böses Blut

Titel: Böses Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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genossen zumindest einen kleinen indirekten Anblick von Manhattans Straßenleben. Das winzige Restaurant, dessen erste Gäste sie gewesen waren füllte sich langsam. Bald waren alle zwölf Tische besetzt.
    Paul Hjelm hatte ein Deja–vu–Erlebnis. Als sie das letztemal allein an einem fremden Ort ein ruhiges Abendessen genossen hatten, da hatte das handfeste Konsequenzen. Er saß da und wand sich ein wenig und dachte an Cilla und die Kinder und ihr mühsam wiedergewonnenes Familiengefühl. Er dachte an die ungeheure Verlockung, die die Frau ihm gegenüber unablässig darstellte, wie sie ihn in seinen Träumen heimsuchte und ein pochendes Geheimnis blieb. Sie hatte ein dezentes Makeup aufgelegt und trug ein kleines schwarzes Kleid mit Spaghettiträgern, die sich über dem bloßen Rücken kreuzten. Sie war so klein und dünn, und ihr Gesicht wirkte noch kleiner als sonst, umrahmt von der schwarzen, etwas ungepflegten Pagenfrisur. War das überhaupt eine Frisur? Er konnte es nicht lassen zu sagen:
    »Erinnerst du dich noch daran, wie wir das letztemal so gesessen haben?«
    Sie nickte und lächelte, unglaublich anziehend. »Malmö«, sagte sie.
    Dieser leicht belegte Göteborger Alt. Ihre Duette mit Gunnar Nyberg klangen ihm in den Ohren. Schubert–Lieder. Goethe–Gedichte. Er wußte nicht, ob er versuchte zu fliehen oder näher zu kommen.
    Als er den Mund öffnete, wußte er nicht, was der nächste Schritt sein würde. Er ließ es geschehen. »Es ist eineinhalb Jahre her«, sagte er.
    »Fast«, sagte sie.
    »Das weißt du noch?«
    »Warum denn nicht?«
    »Tja...«
    Das soziale Treibgut schaukelte an der Oberfläche. Er versuchte, es niederzudrücken, und sagte kurz: »Was ist passiert?«
    Sollte sie es deuten, wie sie wollte. Sie schwieg eine Weile. »Ich mußte andere Wege gehen«, sagte sie schließlich.
    »Und welche?«
    »So weit wie möglich weg von der Arbeit. Ich war nahe daran aufzuhören.«
    »Das wußte ich nicht.«
    »Das wußte niemand außer mir selbst.«
    Nicht einmal er? Er dankte seinem Schöpfer, daß er es nicht sagte.
    »Nicht einmal er«, sagte sie.
    Er schwieg. Er wollte nicht nachfragen. Sie sollte die Wege gehen, die sie gehen wollte. Oder gehen mußte.
    »Nach dir und deiner Entscheidungsangst hatte ich mir vorgenommen, ohne Mann zu leben«, sagte sie leise. »Ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Dann habe ich ihn kennengelernt, ein komischer Zufall. Er hat auch darauf bestanden, mich bei der Arbeit anzurufen, so wußten bald alle, daß ich einen neuen Mann hatte. Was niemand wußte, war, daß er sechzig war und Pastor in der schwedischen Kirche.«
    Hjelm blieb mucksmäuschenstill.
    Nach einer Weile fuhr sie fort, den Blick auf ihre Gabel gerichtet, mit der sie zerstreut in dem halb gegessenen Rinderfilet herumstocherte: »Kein Mensch glaubt, daß man eine heftige, leidenschaftliche Beziehung zu einem sechzigjährigen schwedischen Pfarrer haben kann. Aber so war es. Offenbar kann ich zur Zeit nur solche Beziehungen haben.«
    Sie sah auf das Gewimmel auf der West 25th Street hinaus und fuhr mit demselben etwas mahlenden Tonfall fort: »Er war seit zwanzig Jahren Witwer. Pastor in der Kirche, wo ich im Chor gesungen habe. Er weinte, wenn ich sang, kam zu mir und küßte meine Hand. Ich habe mich wie ein Schulmädchen gefühlt, das endlich ein bißchen Aufmerksamkeit bekam. Ich war Tochter und Mutter zugleich. Daraus wurde mit der Zeit die Frau wiedergeboren.«
    Sie wich seinem Blick immer noch aus. »Es gab so viel Ungetanes in dem Mann. Etwas davon konnte er mit mir tun. Er trug so viel stille und feine Lebensweisheit in sich, ich weiß nicht, ob man das verstehen kann, eine Fähigkeit, die kleinen Gaben jedes Tages zu genießen. Wenn nichts anderes, so hat er mich jedenfalls das gelehrt.«
    »Was ist passiert?«
    Sie wandte sich endlich ihm zu, einen kurzen Moment lang. Ihr Blick war etwas verschleiert, aber höchst lebendig. »Er ist gestorben«, sagte sie nur. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Sie rührte sich nicht. Ihre Blicke trafen sich nicht, sie sahen auf die Straße. »Er war schon todkrank, als wir uns kennenlernten«, fuhr sie leise fort. »Erst jetzt verstehe ich langsam. Er wußte, daß er so viel Leben in sich trug. Er wollte es weitergeben. Ein Abschiedsgeschenk an die Lebenden. Ich hoffe, daß er auch ein bißchen von mir mitnehmen konnte. Ein bißchen Leidenschaft wenigstens.«
    Hjelm hatte aufgehört, darüber nachzudenken, wie er sich verhalten sollte. Er hörte nur zu. Es

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