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Boeses Mädchen

Boeses Mädchen

Titel: Boeses Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amélie Nothomb
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die freigewählte Einsamkeit, das Schweigen, das Recht, ungestört von ihrem Geplapper über Marie-Rose und Jean-Michel ganze Nachmittage zu lesen, das Glück, der Abwesenheit von Geräuschen, besonders von deutschem Rock, zu lauschen.
    Daß ich ihr das alles verdankte, wollte ich gern anerkennen. Aber konnte sie nun, da meine Lehrzeit beendet war, nicht wieder gehen? Ich nahm mir vor, die Lektion nicht zu vergessen.
    Von Freitagabend bis Sonntagabend verließ ich mein Zimmer nur für die unvermeidlichen Gänge ins Bad oder in die Küche, wo ich mich nie länger aufhielt, als um mir leicht verzehrbare Lebensmittel ans Bett zu holen. Die Verräter, die einmal meine Eltern gewesen waren, wollte ich so wenig wie möglich sehen.
    Ich konnte sie nur manchmal hören.
    »Die Kleine lebt richtig auf, wenn ihre Freundin da ist.«
    Tatsächlich lebte ich auf, wenn sie weg war. Allein ihre Anwesenheit – sie mußte nicht einmal in meinem Zimmer sein, ich fühlte sie in einem Umkreis von hundert Metern, egal ob sie für mich sichtbar war oder nicht – ja, das bloße Wissen, daß sie da war, lastete wie eine Betondecke auf mir und nahm mir die Luft zum Atmen. Sosehr ich auch versuchte, sie mir wegzudenken – »Sie ist im Bad, sie braucht noch lang«, sagte ich beispielsweise zu mir, »du bist frei, es ist, als wäre sie gar nicht da« –, Christas Wirkung siegte über jede Logik.
    Einmal fragte sie mich: »Was ist dein Lieblingswort?«
    Christas Fragen waren nie ernst gemeint; die Antwort interessierte sie nicht, sie wollte nur, daß man zurückfragte. Fragen war eins der wichtigsten Mittel ihrer ständigen Selbstinszenierung.
    Ich antwortete trotzdem brav: »Archée. Und deins?«
    »Équité«, erwiderte sie. Dabei betonte sie jede Silbe, wie jemand, der eine ungemein tiefschürfende Entdeckung gemacht hat. »Siehst du, unsere Wahl ist verräterisch: Bei dir zählt nur die reine Liebe zum Wort; für mich bedeutet Gerechtigkeit viel mehr, weil ich aus einem benachteiligten Milieu komme, sie ist ein Begriff, der eine Verpflichtung enthält.«
    »Klar«, bestätigte ich und dachte dabei: Wenn man an Peinlichkeiten sterben könnte, wärst du schon längst tot.
    In einem zumindest war ich mit ihr einer Meinung: Unsere Wahl war in der Tat bedeutsam. Ihre triefte nur so vor guten Absichten; sie entsprang nicht der Liebe zur Sprache, sondern bloß ihrem verzweifelten Bemühen, sich wichtig zu machen.
    Ich kannte Christa gut genug, um zu wissen, daß sie nicht wußte, was »archée« bedeutete. Sie wäre aber lieber gestorben, als mich zu fragen. Es ist ein ganz schlichtes Wort: Archée bezeichnet die Reichweite eines Bogens. Kein anderes Wort verleitet mich so zum Träumen. Es enthält den zum Zerreißen gespannten Bogen, den Pfeil und den erhabenen Moment des Loslassens, den Aufstieg des Pfeils in die Lüfte, die Sehnsucht nach dem Unendlichen und schließlich auch das edelmütige Scheitern, denn die Reichweite des Bogens ist beschränkt, meßbar, ein vitaler Impuls, der mitten im Flug plötzlich endet. Es ist das Sinnbild der Lebenskraft von der Geburt bis zum Tod, der Inbegriff purer Energie, die in einem Augenblick verbrennt.
    In meiner Begeisterung erfand ich gleich das Wort »christée«: Christas Einflußbereich. Eine Christée bezeichnete den Umkreis, den Christa durch ihre Gegenwart vergiften konnte. Eine Christée umfaßte mehrere Archées. Und es gab noch eine Steigerung davon: Die Antéchristée war der Kreis der Verdammnis, in dem ich fünf Tage die Woche leben mußte und der ständig an Umfang zunahm, weil Antichrista im Handumdrehen an Boden gewann, mein Zimmer besetzte, mein Bett, meine Eltern, meine Seele.
     
    Am Sonntagabend kam das Joch zurück. Mein Vater und meine Mutter begrüßten Christa mit großer Rührung – »Sie hat uns so sehr gefehlt!« –, und ich wurde wieder enteignet.
    Wenn die Zeit zum Schlafen kam, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder blickte Christa mich ermattet an und stöhnte: »Das reicht jetzt, ich muß dir nicht alles erzählen« (was ich gar nicht wollte); oder, noch schlimmer, sie erzählte mir doch alles (was ich schon gar nicht wollte).
    Im zweiten Fall mußte ich ihre endlosen Erzählungen über mich ergehen lassen, detailgenaue Berichte über jedes noch so unbedeutende Gespräch mit Jean-Michel, Gunther oder einem anderen Kunden der Bar in Malmédy, wo sie arbeitete, und langweilte mich dabei zu Tode.
    Interessant wurde es nur, wenn sie ein Thema anschnitt, auf das ich insgeheim

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