Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Boeses Mädchen

Boeses Mädchen

Titel: Boeses Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amélie Nothomb
Vom Netzwerk:
Wir hatten beide die Zwischenprüfung bestanden, das war das einzige, was zählte. Aber ich ahnte, daß Christa darüber nicht glücklich sein würde. Hier ging es schließlich um ihre »wahre Heimat«.
    »Und?« fragte Christa betont gleichmütig.
    Ich traute mich nicht zu antworten und streckte ihr nur den Zettel entgegen, auf dem ich alle vierundzwanzig Ergebnisse notiert hatte. Sie riß ihn mir aus der Hand. Ich sah, wie ihr die Kinnlade herunterfiel, und hatte auf einmal ein ganz merkwürdiges Gefühl: Ich schämte mich. Ich hatte vorgehabt, mich an ihrer Enttäuschung zu weiden, jetzt tat sie mir aufrichtig leid. Ich wollte sie schon trösten, als sie erklärte: »Das Ganze beweist doch nur, daß solche Bewertungssysteme Humbug sind. Jeder weiß, daß ich in Philosophie die Beste bin und daß es dir total an Tiefe fehlt.«
    Das war zuviel. Wie konnte sie es wagen? Mir kam ein tückischer Gedanke, den ich sofort in die Tat umsetzte.
    »Das ist sicher ein Irrtum«, murmelte ich ergeben. »Willems wird unsere Ergebnisse verwechselt haben.«
    »Meinst du?«
    »So was soll vorkommen …«
    »Geh zu Willems und frag ihn!«
    »Nein, es ist besser, wenn du hingehst. Zu sagen, ich habe zu viele Punkte, ich möchte lieber weniger, wäre doch völlig absurd. Da würde Willems, wie wir ihn kennen, doch sicher einen Anfall kriegen.«
    »Hm«, brummte Christa.
    Sie tat so, als ließen solche kleinen Widrigkeiten sie völlig kalt. Ich wußte, daß sie hingehen würde, und grinste heimlich in mich hinein, wenn ich an die Abfuhr dachte, die ihr bevorstand.
     
    Zwei Stunden später kam sie wutschnaubend nach Hause und fauchte: »Du hast mich total verarscht!«
    »Wovon redest du eigentlich?«
    »Du warst schon vorher bei ihm, hat Willems mir erzählt.«
    »Ach, bist du doch hingegangen?«
    »Warum hast du mir das angetan?«
    »Ich versteh gar nicht, warum dir das so wichtig ist. Jeder weiß doch, daß du in Philosophie die Größte bist und es mir an Tiefe fehlt. Dieses Punktesystem ist doch Humbug.«
    »Du bist echt krank«, zischte sie und knallte die Zimmertür hinter sich zu.
    »Was ist los?« fragte mein Vater.
    Was mischte der sich da ein?
    »Nichts«, sagte Christa. »Nur daß Blanche sich total aufspielt, weil sie bei der Philosophieklausur die meisten Punkte bekommen hat.«
    »Ach, das ist aber billig«, sagte meine Mutter.
    Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten.
     
    Die Zwischenprüfungen waren vorbei. Christa fuhr nach Hause, um mit ihrer Familie Weihnachten zu feiern. Sie hinterließ weder Adresse noch Telefonnummer.
    »Hoffentlich kommt sie wieder«, seufzte mein Vater.
    »Die kommt schon wieder«, sagte ich. »Sie hat ja fast all ihre Sachen dagelassen.«
    »Da steht sie doch drüber«, sagte meine Mutter. »Sie ist so ganz anders als du. Mußtest du denn so prahlen mit deiner Note in Philosophie? Sie war in allen Fächern besser als du und hat sich damit nicht gebrüstet.«
    Christa war eine Heilige! Ich versuchte gar nicht erst, meinen Eltern irgend etwas zu erklären. Sie gaben ihr ohnehin immer recht.

 
     
     
     
    I ch wußte, sie würde wiederkommen. Nicht wegen der Sachen. Unseretwegen. Sie war mit uns noch nicht fertig. Was sie uns noch aus den Rippen schneiden wollte, war mir zwar nicht klar, aber ihr bestimmt.
    Zwei Wochen Ferien von Christa – das Paradies auf Erden! Ein langer Friede lag vor mir.
    Meine Eltern maulten wie Halbwüchsige über Weihnachten, weil man Heiterkeit heucheln und Tante Ursule besuchen müsse.
    Tante Ursule war unsere einzige Verwandte. Sie wohnte in einem Seniorenheim und vertrieb sich die Zeit damit, das Personal zu tyrannisieren und die Nachrichten zu kommentieren. Meine Eltern fühlten sich verpflichtet, sie einmal im Jahr zu besuchen.
    Ich widersprach: »Tante Ursule ist doch lustig. Sie sagt immer schreckliche Sachen!«
    »Du nun wieder! Du redest schon wie die Alten. Wenn man jung ist, ist Weihnachten doch furchtbar.«
    »Da täuscht ihr euch aber. Christa findet es toll, sie ist ja eine halbe Deutsche, und die lieben Weihnachten. Außerdem möchte ich euch dran erinnern, daß sie am Christtag Namenstag hat.«
    »Stimmt! Wir können ihr gar nicht gratulieren. Und sie ist im Zorn gegangen! Du solltest deine Freude ein bißchen zügeln, wenn du mal wieder besser bist als sie, Blanche! Sie kommt aus einem benachteiligten Milieu und fühlt sich wahrscheinlich minderwertig …«
    Ich schaltete auf Durchzug, weil ich mir ihre Platitüden nicht ständig anhören

Weitere Kostenlose Bücher