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Boeses Mädchen

Boeses Mädchen

Titel: Boeses Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amélie Nothomb
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aufwirbeln, und dann könnte sie nichts mehr bremsen.
    Verwirrt ging ich weg. Wahrscheinlich gab es einen Grund, daß Freundschaft unter kleinen Tieren so wenig verbreitet war. Ich hatte mich getäuscht, als ich in Sabine meine Schwester im Geiste sah. Daß sie bettelte, war offenkundig, aber sie bettelte nicht darum, daß einer kam, sondern daß keiner kam. Jeder Kontakt war für sie eine Qual. Komische Idee, Politik zu studieren, wenn man so ist, dachte ich. Sie sollte lieber zu den Karmeliterinnen gehen.
    In dem Moment entdeckte ich Christa, die mich amüsiert beobachtete. Ihr war mein Seitensprungversuch nicht entgangen.
    »Du brauchst dir gar nicht einzubilden, daß du ohne mich auskommst«, sagte ihr Blick zu mir.
     
    Im Dezember waren Zwischenprüfungen. Jetzt hieß es: An die Arbeit! Schluß mit lustig! Nun ja, ich hatte mich vorher auch nicht gerade kaputtgelacht.
    Christa ließ keine Gelegenheit aus, um anzugeben. In der Philosophie-Einführungsvorlesung machte sie ein bißchen auf Verdurin und trug eine Ergriffenheit zur Schau, die demonstrieren sollte, daß sie mit Kant viel mehr anfangen konnte als wir.
    »Die Philosophie ist meine wahre Heimat«, verkündete sie, ohne rot zu werden.
    Ich nahm sie beim Wort. Schließlich war sie eine halbe Deutsche – beste Voraussetzungen also, um mit Schopenhauer und Hegel auf vertrautem Fuß zu stehen. Nietzsche las sie sicher im Original – ich hatte sie zwar nie dabei gesehen, aber das mußte ja nichts bedeuten. Und wenn sie für manche Begriffe den deutschen Ausdruck benutzte, erschauerte ich – es war so unendlich viel tiefer.
    Die Zeit der Prüfungen brachte eine wunderbare Veränderung mit sich: Mein Zimmer wurde nicht mehr mit Musik beschallt. Wir saßen beide schweigend an meinem Schreibtisch und lernten. Wenn ich aufblickte und sie ansah, mußte ich sie bewundern. Im Vergleich zu ihrem konzentrierten Gesichtsausdruck wirkte ich ziemlich zerstreut.
    Die Philosophieklausur dauerte vier Stunden; als sie vorbei war, schrie Christa: »Das war echt aufregend.«
    Bei den mündlichen Prüfungen schnitt Christa sehr viel besser ab als ich. Kein Wunder, sie war brillanter, und sie konnte sehr gut reden. Die Noten wurden sofort vergeben, bevor man den Prüfungsraum verließ.
    Auf die Ergebnisse der schriftlichen Prüfung mußten wir zwei Wochen warten. Kaum hingen sie aus, schickte Christa mich mit dem Auftrag hin, nicht nur ihre Note abzuschreiben, sondern alle anderen auch, was recht aufwendig war, wenn man bedenkt, daß wir insgesamt vierundzwanzig Studenten waren.
    Sie will sich doch nur dran aufgeilen, daß sie die Beste ist, tobte ich innerlich. Aber ich wagte es nicht, mich ihren Wünschen zu widersetzen.
    Natürlich wollte ich erst mein Ergebnis wissen: Blanche Hast, 18 von 20 Punkten. Ich machte große Augen – das war ja viel besser, als ich erhofft hatte. Dann suchte ich nach dem Namen Christa Bildung: 14 von 20. Ich mußte kichern. Die würde sich wundern! Dann machte ich mich daran, die gesamte Liste abzuschreiben. Am Ende stellte ich fest, daß 18 von 20 Punkten das beste Ergebnis überhaupt war – und ich die einzige, die es hatte.
    Das war zu schön, um wahr zu sein. Da mußte ein Irrtum vorliegen. Ja, ganz sicher war es so. Ich stürmte zum Sekretariat, erfuhr, daß der Professor in seinem Büro war, und platzte dort hinein.
    Professor Willems wirkte nicht sehr erfreut.
    »Sie kommen wahrscheinlich, um Ihr Ergebnis mit mir zu diskutieren«, knurrte er mürrisch.
    »Das stimmt«, sagte ich.
    »Sie heißen?«
    »Hast.«
    Willems sah seine Liste durch.
    »Also das ist ja wirklich die Höhe! 18 von 20 Punkten sind Ihnen immer noch nicht genug?«
    »Nein, im Gegenteil, ich glaube, Sie haben sich zu meinen Gunsten verrechnet.«
    »Und damit behelligen Sie mich auch noch?«
    »Es ist nur … ich glaube, Sie haben da zwei Ergebnisse verwechselt, nämlich meins mit dem von Christa Bildung.«
    »Jetzt verstehe ich: Sie sind eine Gerechtigkeitsfanatikerin«, seufzte er.
    Er griff zu dem Riesenstapel mit den Klausuren und suchte meine und Christas Arbeit heraus.
    »Nein«, sagte er schließlich, »das ist kein Irrtum. 14 von 20 Punkten vergebe ich, wenn jemand den Vorlesungsstoff auswendig kann, 18 von 20, wenn jemand eine eigene Meinung vertritt. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, sonst tausche ich wirklich die Ergebnisse aus.«
    Mein Jubel war nur von kurzer Dauer. Wie sollte ich das Christa beibringen? Den Ergebnissen kam keine entscheidende Bedeutung zu.

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