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Boeses Mädchen

Boeses Mädchen

Titel: Boeses Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amélie Nothomb
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wollte.
     
    »Ihr drei schaut ja nicht grade fröhlich drein!« empfing uns Tante Ursule.
    »Wir vermissen Christa«, sagte ich. Ich war gespannt auf ihre Reaktion.
    »Wer ist Christa?« fragte sie.
    Mit Tränen in den Augen erzählte mein Vater von dem wunderbaren Mädchen, mit dem wir neuerdings unser Leben teilten.
    »Hast du was mit ihr?« erkundigte sich Tante Ursule.
    »Sie ist doch erst sechzehn, wie Blanche«, ereiferte sich meine Mutter. »Wir lieben sie wie eine Tochter.«
    »Zahlt sie euch wenigstens Miete?«
    Sie habe doch nichts, sagte mein Vater, natürlich wohne sie umsonst.
    »Schlaues Luder!« befand die Tante. »Da hat sie ja Dumme gefunden!«
    Sie komme vom Land, aus dem Osten …
    »Was, auch noch Deutsche?« rief die Tante. »Ist ja ekelhaft!«
    Lautstarker Protest seitens meiner Eltern. Das seien Gedanken von gestern! Die Dinge seien nicht mehr wie früher! Der Osten gehöre jetzt zu Belgien.
    Das war Balsam für meine Seele.
    Als wir aufbrachen, waren meine Eltern am Boden zerstört.
    Sie beschlossen, Christa gegenüber den Besuch nicht zu erwähnen. Ich fand das sehr bedauerlich.
     
    Heiligabend wurde bei uns nicht groß gefeiert; wir waren nicht gläubig. Wir tranken nur Glühwein, weil es nett war. Mein Vater roch lange an seinem Glas und sagte dann: »Sie trinkt bestimmt jetzt auch so was.«
    »Ja«, bestätigte meine Mutter. »Das ist bei den Deutschen so üblich.«
    Mir fiel auf, daß dieses »sie« keiner Erläuterung mehr bedurfte.
    Zärtlich hielten sie ihr Glas umfaßt und sogen mit geschlossenen Augen den Duft ein. Der Geruch von Zimt, Gewürznelken, Zitronenschale und Muskat verband sie mit Christa. Und ich wußte, daß sie jetzt auf dem Schirm ihrer gesenkten Lider Christa im Kreis ihrer Lieben erblickten, Weihnachtslieder singend am Klavier, und durch das Fenster konnte man die Flocken vom Himmel ihrer fernen Provinz fallen sehen. Ob das Bild mit der Wirklichkeit übereinstimmte, war nicht so wichtig. Wie hatte sie es bloß geschafft, die Seele meiner Eltern so mit Beschlag zu belegen?
    Und meine eigene. Denn sosehr ich sie auch verfluchte, war ich doch von ihr besessen. Ständig stolperte ich innerlich über ihre Allgegenwart. Und ich war schlimmer dran als meine Erzeuger, denn sie waren von Liebe erfüllt.
    Hätte ich Christa doch auch geliebt! Wie tröstlich wäre es gewesen, wenn all diese Unbill aus einem edlen Gefühl entstanden wäre. Meine Abneigung war allerdings nicht allzuweit davon entfernt: Ich wollte sie ja lieben, und manchmal fühlte ich mich dem Abgrund von Gnade oder Verderben, in den mich die Liebe zu ihr gestoßen hätte, ganz nah. Was hielt mich davon ab, mich hineinzustürzen? Mein kritischer Geist? Meine Hellsicht? Engherzigkeit? Oder Neid?
    Ich hätte nicht Christa sein wollen, aber ich wollte wie sie geliebt werden. Ohne zu zögern hätte ich den Rest meines Lebens dafür gegeben, diese Schwäche und Kraft, diese Demut und Kapitulation, diese glückliche Hingabe an die abgöttische Anbetung meiner Person in jemandes Augen aufleuchten zu sehen – und wäre es der letzte Mensch gewesen.
    So wurde die Christnacht ohne Christa doch noch zur Antichristanacht.
     
    Anfang Januar kam sie zu uns zurück. Die Freude meiner Eltern zu sehen tat weh.
    »Heute ist Dreikönigstag«, verkündete sie und hielt uns ein Päckchen aus der Konditorei entgegen.
    Dann nahm man Christa den Mantel ab, überschüttete sie mit Komplimenten, küßte sie auf die Wangen, beklagte ihre lange Abwesenheit, stellte den Dreikönigskuchen auf den Tisch und arrangierte die Kronen aus goldfarbener Pappe drumherum.
    »Was für eine nette Idee!« rief meine Mutter. »Wir denken nie daran, den Bohnenkönig zu ziehen.«
    Christa schnitt den Kuchen in vier Teile. Alle kauten vorsichtig.
    »Ich habe die Bohne nicht!« sagte Christa, als sie den letzten Bissen schluckte.
    »Ich auch nicht«, sagte mein Vater.
    »Dann muß Blanche sie haben«, sagte meine Mutter.
    Alle Blicke waren nun auf mich gerichtet. Ich war die einzige, die noch nicht ganz aufgegessen hatte.
    »In meinem Stück war sie auch nicht«, brachte ich schließlich hervor und hatte sofort Gewissensbisse.
    »Du mußt sie aber haben!« rief mein Vater.
    »Vielleicht war in dem Kuchen keine drin«, sagte Christa.
    »Das kann nicht sein«, ereiferte sich meine Mutter. »Das ist nur, weil Blanche immer alles in sich hineinschlingt, sie wird die Bohne verschluckt haben, ohne es zu merken.«
    »Wenn ich immer so schlinge, wieso war ich

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