Böses Spiel in Friesland - Kriminalroman
Frau van Aaken. 5. – 13. Klasse, Technisches Gymnasium Jadingen. Anklage: Bankraub bei der Raiffeisenbank in Goldsiel. Hayo entzog sich dem angesetzten Prozess durch Einnahme eines Gifts. Qualvoller Tod im Landeskrankenhaus. Frage: Wie kam er an das Gift? Antwort: Keine. Gründe für den Selbstmord: Scham, denn Hayo stammt aus einer guten Familie. Vater ist Landarzt. Geschwister: Bruder und Schwester, beide zeigen bürgerliche Normalentwicklung. Erfahrbare Hobbys und Freizeitgestaltung: Schießsport, Judo und Karate. Normale Kindheit in einem bürgerlichen Elternhaus. Leistungen in der Schule: normale Durchschnittsnoten um Befriedigend. Lieblingsfach: Geschichte mit Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg. Umgang: Schützenverein, gelegentliche Discobesuche, nur wenige Freundschaften mit Mädchen. Fazit: Nicht erkennbare Gründe für den Bankeinbruch, da Hayo keine Geldsorgen kannte. Großzügige Taschengeldanordnung durch den Vater.
Es folgten noch einige Daten, die auf mich nebensächlich wirkten.
Ich legte das Heft auf den Tisch.
Gregor saß gedankenverloren in seinem Sessel, dessen Holzschnitzwerk an frühere Zeiten erinnerten. Seine Hände lagen auf dem Heft.
»Recht merkwürdig«, sagte er, »tauschen wir.«
Ich nahm sein Heft und gab ihm das bereits abgelegte.
Auf dem Tisch las ich vom kleinen Etikett »Enno Warfenknecht«.
Die Reihenfolge wollte es, dass ich es ungelesen zur Seite schob.
Im dritten Heft setzte die exakte Schrift von Pastor van Aaken die Daten von Geburt, Taufe und Konfirmation des Schülers Arno Zittinga sauber ins Bild. Die Parallelen zu Hayo Wiefelkamp endeten beim Geburtsjahrgang 1981. Arno hatte den Weg über die Realschule zum Technischen Gymnasium gefunden. Er kam ebenfalls aus einem guten Elternhaus, soweit solche Aussagen zur Festlegung der charakterlichen Eigenschaften eines Menschen überhaupt aussagekräftig sind. Denn die kleinbürgerliche Zuordnung geht davon aus, dass es angesehenen Familien gestattet ist, positive Schicksale für sich zu pachten. Dass dem nicht so war, bewies unerklärlicherweise Arno Zittinga, den der Pastor mit dem Spruch »Suche das Licht! Es wird dir leuchten immerfort!« konfirmiert hatte. Bei einem blitzartigen Überfall auf das Waffendepot der Bundeswehr in Heidkamp hatte der wachhabende Soldat im Todeskampf noch einen Schuss auf die mehrköpfige Bande abgeben können, der Arno am Oberschenkel erwischt und ihn bewegungsunfähig gemacht hatte. Er wurde als Einziger in der Kaserne gefasst.
Ich las fasziniert weiter. Pfarrer van Aaken musste sich in den Fall vertieft haben, denn im Protokollstil führte er den Fortgang der Geschichte aus. Der diensttuende Stabsarzt hatte sich des Opfers angenommen. Er hatte die Wunde behandelt und die notwendige, aber aufschiebbare Operation in die frühen Morgenstunden verlegt, damit ihm Assistenzärzte und Schwestern assistieren konnten. Arno Zittinga bekam ein Bett in der zurzeit leeren Krankenstation des Lazaretts zugewiesen. Der Arzt hatte angeordnet, dass sich der Sanitätsdienst um den Mann zu kümmern hatte. Der angeschossene Patient hatte bleich und lethargisch im Revier gelegen, umgeben von leeren Betten, und bot keinen Anlass zur Dauerbewachung. Der Sanitätsunteroffizier verließ sich auf Stichproben, während die Nachricht des Überfalls auf das Waffendepot bereits vom Fernsehen ausgestrahlt wurde.
Doch die eigentliche Sensation sollte noch eine Steigerung finden. In den frühen Morgenstunden fand der Sanitätsunteroffizier während seines Kontrollganges das Bett des Patienten leer vor und presste Sekunden später seine Hände an den Magen, als er Arno Zittinga mit herausgestreckter Zunge, erwürgt von den zusammengeknoteten Bettlaken, vom Jalousienkasten herabhängen sah.
So weit die Eintragungen. Ich suchte nach den Hobbys und fand die Eintragung: Schießen, Selbstverteidigung. Seltsamerweise entdeckte ich in der Rubrik Lieblingsfach Geschichte, und auch Arno Zittingas Interesse lag auf dem Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg. Und, was mich zusätzlich erregte, er war Mitglied des Schützenvereins von Upplewarf.
Warum sollte ich noch in Ennos Heft schauen? Seine ihm vorgeworfenen Einbrüche endeten ohne Rechtfertigung mit einem Schuss in den Kopf, dachte ich und sah, wie Gregor sein Heft gedankenvoll ablegte und die Kladde über Enno aufhob.
Ich sagte keinen Ton, zog eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie an, rauchte, schaute dem Qualm nach und trank den restlichen Kaffee, der kalt geworden war. Gregor
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