Boeses Spiel
fühlte mich, als habe man mir meinen großen Bruder weggenommen. Keiner mehr da, hinter dessen Rücken ich mich flüchten konnte. Das machte mich noch unsicherer. Ich wartete förmlich darauf, dass sie irgendetwas mit mir anstellen würden. Irgendetwas.
In der ersten und der zweiten Stunde geschah nichts. Der normale Schulablauf. Ich musste in Englisch einen schwierigen Text übersetzen und verhaspelte mich mehrfach.
Candice Morgan war als Austauschreferendarin aus Seattle zu uns gekommen, ich mochte sie, auch wenn sie ein ganz anderes Englisch sprach, als wir es lernten. Candice Morgan hatte den breiten amerikanischen Akzent, während überall an den Schulen das Oxford-Englisch gesprochen wird. Mir gefiel das Amerikanische, aber ich hab mich nie getraut, auch so zu reden. Als ich bei einem Satz total ins Straucheln geriet und mit hochrotem Kopf dastand, kam die Lehrerin zu mir und legte ihren Arm um meine Schulter. Ganz liebevoll und besorgt.
»Svetlana, dear, what’s happening?«, fragte sie. »Why are you so nervous? Why can’t you concentrate?«
Am liebsten hätte ich mich in ihre Arme geworfen und gesagt: Spüren Sie nicht die Spannung? Merken Sie nicht, dass alle im Raum hier mich hassen? Aber ich schwieg.
Nach der großen Pause, die ich in der Bibliothek verbracht hatte, um niemandem in die Quere zu kommen, stieß Nadine auf mich zu, kaum dass wir alle wieder im Klassenzimmer waren.
Sie setzte sich, ohne zu fragen, auf die Kante meines Tisches und betrachtete ihre lackierten Fingernägel.
»Kannst du deiner Mutter was von uns ausrichten?«, sagte sie. Es klang ganz freundlich, fast beiläufig, sodass ich für einen Augenblick glaubte, es ist okay.
Ich nickte also. »Ja, gerne.«
Nadine betrachtete weiter ihre Fingernägel, als sie sprach. »Wir haben gestern Abend bei den Jungs eine Pyjamaparty gefeiert«, sagte sie. »Und da ist ein bisschen zu viel getrunken worden.«
»Aha«, erwiderte ich. Und dachte: Zu so was werde ich nie eingeladen werden. Nie in meinem Leben.
»Tja«, meinte Nadine, »und ein paar von den Jungs ist schlecht geworden. Die haben da im Bad wohl ziemlich rumgesaut.«
Jetzt merkte ich, wie einige lachten, und erst damit fiel mir auf, dass sie sich um uns zusammenrotteten, damit ihnen ja nichts von dem Gespräch entging.
Ich war auf der Hut. »Ja, und? Was geht mich das an?«, fragte ich patzig.
»Dich geht das nichts an«, entgegnete Nadine freundlich, »aber deine Mutter. Sie hat nicht gut genug geputzt. Hinter den Klos liegt noch die Kotze.«
Ich glaube, ich bin aschfahl geworden, meine Nasenspitze war wie vereist, dann wurde ich rot und mein Gesicht glühte. »Lasst mich in Ruhe«, zischte ich.
Da mischte sich Lennart ein. »Können wir leider nicht«, sagte er. »Tut uns wahnsinnig leid. Aber heute Nachmittag ist bei uns im Haus Inspektion angesagt, da muss alles tipptopp sein, verstehst du? Sonst kriegen wir eins reingewürgt.«
»Dann macht doch sauber!«, giftete ich. Ich wollte aufstehen.
Aber sie ließen mich nicht, ich saß eingeklemmt auf meinem Platz und sie waren wie eine kreisrunde Mauer um mich herum.
»Saubermachen ist aber nicht unsere Aufgabe«, rief Felicitas. »Was glaubst du, wofür unsere Eltern so viel Kohle bezahlen?«
»Meine Aufgabe ist es aber auch nicht!«, schrie ich. Ich war jetzt außer mir. Es war wie einer von diesen Albträumen, aus denen man schweißgebadet hochschreckt. Und danach Angst hat, wieder einzuschlafen, weil man sich in dem gleichen Szenario wiederfinden könnte.
»Wie sieht das eigentlich bei euch zu Hause aus?«, fragte Tilly.
»Wie bei Hempels unterm Sofa!« Das war Simon. Und alle lachten, als müsste der beste Witz des Monats prämiert werden. Ein idiotischer Spruch!
Plötzlich klatschte jemand in die Hände und rief: »Achtung!«
Dr. Simonis hatte die Klasse betreten. Die Deutschstunde begann.
Sie gingen auseinander, aber lässig, und schlenderten zu ihren Plätzen, und auf ihren Gesichtern war ein Grinsen. Dr. Simonis bemerkte nichts davon. Er bemerkte auch nicht, wie außer mir ich war. Er wollte mit uns einen Test schreiben. Er hatte andere Dinge im Kopf.
An dem Tag bin ich ohne Mittagessen nach Hause gefahren. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, zusammen mit diesen Typen aus meiner Klasse in einem Speisesaal zu sitzen, besonders weil Ravi nicht da war.
In meinem Zimmer bin ich wie tot auf das Bett gefallen. Ich wollte an irgendetwas Schönes denken, an irgendetwas, das mich aufrichten würde.
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