Boeses Spiel
Aber mein Kopf war leer.
Draußen zogen dunkle Wolken auf. Eine feuchte Stelle an der Zimmerdecke war doppelt so groß wie am Vortag. Offenbar war bei den Nowatzkis eine Leitung defekt. Die Vorstellung, dass das Wasser von oben langsam in unsere Wände sickerte, war auf einmal wie eine allgegenwärtige, anwachsende Bedrohung.
Irgendwann fand ich die Kraft, mich an meinen Schreibtisch zu schleppen und mit den Schularbeiten zu beginnen. Am nächsten Tag würden wir eine Mathearbeit schreiben.
Uwe Johnson hatte mich noch gefragt, ob ich dafür Hilfe von ihm brauchte, weil es um einen Themenkreis vom vergangenen Schuljahr ging, der - komplizierter - wieder aufgenommen wurde. Aber ich war ehrgeizig, und ich hatte ihm erwidert, dass ich alleine versuchen würde, mich da durchzukämpfen.
Das hatte ihm gefallen. So sehr, dass er mich in den Arm nahm und meinte: »Wenn alle so wären wie du, Svetlana, könnte ich mich aufs Neue in meinen Beruf verlieben.« Das war ein großes Kompliment aus seinem Mund, ich war entsprechend stolz. Und gleichzeitig froh, dass niemand von meinen Mitschülern es gehört hatte.
Wenn ich am Schreibtisch saß, legte ich mein Handy auf die Fensterbank. Eine alte Gewohnheit. Dabei rief nur selten jemand an. Mal eine Cousine von mir, die mit ihren Eltern im Süden, in Baden-Württemberg, wohnte (die Familie war fast zur gleichen Zeit wie wir nach Deutschland gekommen), oder jemand aus meiner alten Schule, der von mir einen Tipp für irgendwelche Hausarbeiten haben wollte. Meistens aber war es meine Mutter, die mir ausrichtete, dass sie später nach Hause kommen würde, dass sie vergessen hatte, die Waschmaschine anzustellen oder dass ein Stapel Bügelwäsche auf mich wartete.
SMS bekam ich fast nie. Deshalb war mir der Klingelton, mit dem ein SMS-Eingang angekündigt wird, ganz fremd. Ich weiß, dass ich zusammengezuckt bin und auf mein Handy gestarrt hab, als wäre es nicht meins.
Die SMS lautete:
»SCHAU MAL UNTERM SOFA NACH!«
Ohne Absender. Nummer unterdrückt.
Ich löschte die SMS sofort und versuchte, nicht weiter darüber
nachzudenken. Aber auf die Schularbeiten konnte ich mich auch nicht mehr konzentrieren.
Wenig später wieder der Klingelton, eine neue SMS. »BEI ACHSELSCHWEISS: ALLES ÜBER SEIFE UND DEOS BEI: WWW.ICHSTINKE.COM
Ich stellte das Handy aus. Mein Herz raste. Ich ging ins Bad und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich schaute in den Spiegel. Ich sah ein Mädchen mit dichten hellen Haaren und ganz kleinen müden Augen. Wie unter Zwang hob ich meinen Arm, prüfte, ob ich unter den Achseln nach Schweiß roch. Natürlich nicht. -
Als ich aus dem Bad wieder in mein Zimmer kam, war es wie in Sonne gebadet. Die dunklen Wolken hatten sich verzogen und auf einmal leuchtete ein Frühlingstag. Ich hielt es in der Wohnung sowieso nicht mehr aus. So bin ich einfach auf die Straße gelaufen. Draußen war eine herrliche frische Luft, ein leichter Wind wehte und unsere Straße war voller Kindergeschrei. Die Kleinen spielten irgendein altmodisches Hüpfspiel und amüsierten sich. Ich blieb eine Weile bei ihnen stehen, weil mir ihr Lachen guttat. Dann fiel mir ein anderes Hüpfspiel ein, mit zwei langen Gummibändern, das wir in der Ukraine immer gespielt hatten, und ich ging zurück, um solche Gummibänder zu holen.
Das Handy hatte ich schon zuvor in meinem Zimmer gelassen, und ich war schon wieder im Treppenhaus, als ich dachte, ich nehm’s doch mit.
Es war eine neue SMS eingegangen: »MORGEN ERST ZUR DRITTEN STUNDE!«
Das war komisch, denn für die ersten beiden Stunden war die Mathearbeit angesetzt, Uwe Johnson hatte extra
mit dem Sportlehrer getauscht, weil er der Meinung war, dass unser Gehirn, ausgeruht und noch nicht von neuen Informationen überflutet, morgens am besten funktionierte.
Ich nahm mir vor, im Sekretariat anzurufen und mir die Nachricht bestätigen zu lassen, aber erst mal wollte ich den Kleinen draußen das neue Spiel zeigen.
Wir hatten wirklich eine Menge Spaß, und ich nahm mir vor, öfter mal, wenn das Wetter es erlaubte, einfach rauszugehen und mit den Kindern etwas zu machen.
Als ich in die Wohnung zurückkam, war es schon nach fünf Uhr. Ich rief im Sekretariat an, aber da lief nur der Anrufbeantworter.
Die Nummer von unserem Mathelehrer hatte ich nicht. Ich hatte überhaupt keine Telefonnummer von irgendeinem Lehrer, geschweige denn von einem Mitschüler, nur Ravis war in meinem Handy gespeichert.
Als ich es in der Hand hielt, fiel mir zum
Weitere Kostenlose Bücher