Boeses Spiel
gewesen.
Tilly meinte zu mir, dass ich mir die Foren unbedingt ansehen müsste. Ich wusste bis dahin nicht einmal, dass so etwas existierte.
Ich freute mich, dass sie mich darauf aufmerksam machte. Denn bislang hatten meine Mitschüler sich ja nicht als sehr hilfsbereit und auskunftsfreudig erwiesen. Tilly erzählte mir ein bisschen was über die Foren, die die Schulleitung eingerichtet hatte, die aber kaum jemand nutzte. Und dann sprach sie über die Foren, für die man ein spezielles Passwort brauchte, weil sie nur intern für den Schülergebrauch waren. Ich schrieb mir sofort die Adresse und Passwort auf.
Am gleichen Nachmittag loggte ich mich ein.
Der Erlenhof hat verschiedene Chatrooms zu unterschiedlichen
Themen. Ich besuchte kurz den für Austauschschüler, sah mir Listen von Angeboten an, neben der Schule Sozialstunden zu absolvieren, zum Beispiel in einem Altersheim oder in einer Werkstatt für Behinderte, oder sich für eines der Forschungsprojekte zu bewerben, die das Gymnasium in Zusammenarbeit mit anderen Bildungseinrichtungen europaweit betrieb.
Das war zwar alles interessant, aber nichts für mich.
Ich wollte zu den Internetforen, die die Schüler selbst eingerichtet hatten. Ich wollte Zugang zu den Ebenen, für die man das Passwort brauchte, das Tilly mir genannt hatte. »Eine Plattform, auf der nur die Schüler sich austauschen, ohne dass ein Lehrer je da reinkommt«, hatte sie gesagt. Das klang spannend. Und es klappte. Schon hatte ich eine lange Liste vor mir von Themenbereichen, die ich anklicken konnte. Zum Beispiel: »Lehrer-Check«.
Hier tauschten die Schüler Ansichten über ihre Lehrer aus und benoteten sie nach einem Punktesystem von eins bis sechs. Da ging es um Aussehen und Klamotten, Sex-Appeal, Strenge, Gerechtigkeitssinn, Humor, Coolness oder … nun ja, Mundgeruch.
Unser Klassenlehrer Dr. Simonis zum Beispiel schaffte einen Notendurchschnitt von 2,6. Bei der Gelegenheit erfuhr ich auch, dass er in unsere Chemielehrerin Frau Cohrs (die den Spitznamen CO 2 hatte) verliebt war. Ein Schüler hatte die beiden zufällig bei einem Konzert des Schleswig-Holstein-Musikfestivals getroffen, Arm in Arm. Sie hatten den Schüler dann, was ich toll fand, in der Pause zu einem Drink eingeladen. Hat ihnen beiden bei der Benotung bestimmt ein paar Pluspunkte gebracht.
Es gab eine Plattform »Finale«, exklusiv für alle Schüler,
die sich aufs Abi vorbereiteten. Da kam ich mit meinem Passwort nicht rein.
Ein anderes Unterforum hatte den Titel »Waisenkinder«. Den klickte ich neugierig an. Das Thema war beliebt, wie ich sah. Jeden Tag mindestens fünf neue Einträge. Von Leuten, die sich alle abenteuerliche Namen gegeben hatten, wie LUZIFER oder SPACE SHUTTLE. Man konnte oft nicht erraten, ob da ein Junge oder ein Mädchen schrieb. Hauptsächlich ging es um Heimweh. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie die Internen sich wohl fühlten. Wie es so für Internatsschüler war, nur alle zwei oder drei Wochen einmal nach Hause zu können. Oder womöglich nur in den Ferien. Wie gut es mir dagegen ging! Ich hatte jeden Abend meine Eltern, mein Zuhause. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich den Stress mit meiner Klasse hätte aushalten sollen, wenn ich nicht dieses Nest daheim gehabt hätte. Diesen Rückzugsraum. Aber da wusste ich noch nicht, dass sie mir auch dieses Nest kaputt machen können. Dass ich auch zu Hause vor ihnen nie mehr sicher sein sollte. (Allerdings, mit den SMS hatte das ja schon begonnen...)
Es war jedenfalls spannend, wie viele der Schüler das Internat als eine Art Waisenhaus erlebten. Wie etwas ohne Seele und ohne elterlichen Schutz. Ich dachte: Gut zu wissen, dass die sich auch manchmal elend fühlen!
Ein User, der sich ROSENSTOLZ nannte, schrieb: »Es ist mir inzwischen ganz klar, dass meine Eltern mich zum Erlenhof geschickt haben, weil sie mich los sein wollten. Das hatte nichts damit zu tun, dass ich hier vielleicht besser lernen und ein besseres Abi machen würde. Sie haben mich abgeschoben, weil sie keinen Zeugen bei ihren beschissenen Streitereien wollten. Keinen, auf den sie Rücksicht nehmen
mussten. Sie wollten sich zu Hause schön ungestört an die Kehle gehen. Sie wollten sich in Ruhe die Köpfe einschlagen und hatten keinen Bock mehr auf ein kleines, trauriges Kind, das immer nur flehte: Vertragt euch doch wieder! Bitte! Wieso kann es nicht so schön sein wie früher?
O Gott, war ich naiv! Als würden Eltern, wenn sie sich erst mal so hassen wie meine Ma
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