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Boeses Spiel

Titel: Boeses Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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guten Ruf nicht verlieren.«
    Ravi schwieg.
    Ebenso ich.
    »Ravi hat uns diese … Seiten gezeigt«, sagte der Direktor. »Seit einer Stunde lesen wir Unfassbares.«
    »Er berichtete, du bekommst auch ähnliche SMS auf deinem Handy.«
    Ich nickte. Mir war auf einmal eiskalt. Ich schaute mich im Zimmer um, weil ich wissen wollte, ob der Direktor in seinem Büro eine Klimaanlage hatte. Ich konnte nichts entdecken.
    Wieso, dachte ich, ist es hier so eiskalt?
    Dr. Simonis sprach, dann sprach der Direktor. Sie waren immer noch fassungslos, sie hatten sich nicht vorstellen können, dass an dieser Schule so etwas passierte. Solch ein Fall von eklatantem Mobbing.
    »Ravi erzählte uns, dass es seit gestern neue Fotos gibt. Neue Fotomontagen«, sagte der Direktor. »Kannst du dir vorstellen, wie sie zustande gekommen sind? Vielleicht gibt es Hinweise darauf, wer genau dahintersteckt?« Er sah mich an.
    Ich stand vor seinem Schreibtisch, einem Riesending. So groß mochte der Schreibtisch von Napoleon gewesen sein, schoss es mir durch den Kopf, der Tisch, an dem er seine Kriegspläne geschmiedet hat. Ich weiß nicht, wieso ich an Napoleon dachte und den Russlandfeldzug und die Soldaten, die sich Lumpen um die Füße gewickelt hatten, um nicht zu erfrieren. Vielleicht weil ich irgendwann in den letzten Tagen im Fernsehen eine Filmvorschau gesehen hatte,
von einem aufwendigen Streifen über den Russlandfeldzug des Kaisers. Schneewüsten waren zu sehen gewesen.
    Meine Mutter hatte mich in einem Zug geboren, auf dem Weg vom kalten Sibirien. Auf dem Fußboden des Abteils.
    Die eine Frau, die ihr geholfen hatte, hieß Svetlana, die andere Olga.
    Wäre der Zug länger als jene zwei Tage stecken geblieben, im tiefen Schnee, so wäre ich vielleicht erfroren.
    Dann müsste ich jetzt nicht hier stehen.
    »Ja«, sagte Ravi. »Diese Fotomontagen sind ganz neu. Die sind gestern erst aufgetaucht.«
    Er trat einen Schritt vor.
    Zögernd ging er hin zu dem Bildschirm, auf dem die neuen Fotos offenbar zu sehen waren. Das Gerät auf dem Schreibtisch stand mit der Rückwand zu mir. Auf Ravis Gesicht spiegelte sich der helle Untergrund des Screens. Es war, als spiegelten sich die Bilder auf seinem Gesicht. Mir war, als könne ich die nackte Svetlana sehen, so groß wie die Distanz zwischen seiner Stirn und seinem Kinn. Ich starrte ihn an, wie fasziniert.
    »Ravi erzählte uns«, sagte der Direktor, »dass sie dein Gesicht auf ein anderes Foto montieren...«
    Ich sagte nichts.
    »Du musst nicht sprechen.« Dr. Simonis schluckte. »Ich kann mir vorstellen, wie schlimm die letzten Monate für dich gewesen sein müssen.«
    »Aber endlich hat der Spuk ein Ende«, sagte der Direktor. »Endlich kommt alles ans Licht.«
    Da begann ich, am ganzen Körper zu zittern. Ich fühlte, dass ich all dem nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Ich wollte nur noch, dass ich erlöst werde. Und dann brach es
aus mir heraus. Der Direktor und Dr. Simonis und Ravi - sie sahen die Bilder. Doch das waren keine Montagen, keine Manipulation, das war ich. Ich selbst. Und alles, alles in mir drängte, wie ein Wasser, das nicht aufzuhalten ist, dass endlich Schluss sein müsste. Endlich, endlich Schluss. Mit allen Torturen. Mit denen, die mir von anderen zugefügt worden waren, seit ich hier an dieser Schule war. Und auch mit denen, die ich mir selbst zugefügt hatte. Unter denen ich litt. Die mich quälten.
    Ja, der Spuk musste ein Ende haben. Ich konnte nicht mehr.
    »Das bin ich«, sagte ich.
    Dr. Simonis machte ein Geräusch mit den Lippen, so ein schmatzendes Geräusch, und zog dabei die Luft ein. »Wie?«, fragte er verständnislos.
    »Das bin ich da auf den Fotos«, sagte ich. »Das ist keine Fotomontage. Sie haben mich heimlich fotografiert. Im Schober.«
    Dr. Simonis und der Direktor tauschten einen Blick. Ich fixierte die beiden, um nicht Ravi ins Gesicht sehen zu müssen.
    »Kannst du das bitte näher erklären?«, fragte der Direktor. Seine Stimme klang rau plötzlich. Mir fiel auf einmal das Märchen vom Wolf ein, der die sieben Geißlein gefressen hat. Dass man mit Kreide seine Stimme verändern kann, sodass sie hell und weich und geschmeidig wird.
    »Was für ein Schober?«, fragte Dr. Simonis.
    »Der hinter der großen Pferdekoppel, bevor die Weizenfelder anfangen, auf der anderen Seite vom Wald«, sagte ich. »Da komm ich jeden Tag auf dem Weg zur Schule vorbei.«

    »Das verstehe ich nicht«, sagte der Direktor, er sah seinen Lehrerkollegen an.
    Draußen grollte

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