Bold, Emely
Eigentlich war Blair nicht gerade ein großer Denker, aber im Schach schlug ihn so schnell keiner. Manch eine Partie der beiden dauerte mehrere Tage. So auch diesmal. Sie spielten bereits seit Stunden. Zum Glück lag es ihnen im Blut, mit wenig Schlaf auszukommen.
„Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, wollte Sean wissen, der seinen Läufer setzte und dann zu Payton aufblickte.
Von allen Familienmitgliedern stand ihm der fünfundzwanzigjährige Sean am nächsten. Dieser war sechs Jahre älter als er selbst und damit im Alter deutlich näher an Blair, der mit seinen siebenundzwanzig Jahren das Familienoberhaupt bildete.
„Keine Laus! Alles in Ordnung!“, gab Payton zurück. Das Letzte, was er wollte, war ein Gespräch mit dem „Clan“. Zweifelnd zog Sean eine Augenbraue nach oben und setzte zu einer neuerlichen Frage an. Payton hob warnend die Hand:
„Es ist nichts, habe ich gesagt! Lass mich einfach in Frieden!“
Sekundenlang sahen sich die beiden stumm an, ehe Sean resigniert die Schultern zuckte und sich wieder seinem Gespräch mir Blair widmete.
Sean wirkte durch seine schlanke Figur jünger als er war. Er war sehr sportlich und sehnig. An Kraft mangelte es ihm ebenso wenig, wie an Intelligenz. Er hatte eine sehr gute Auffassungsgabe und darum entging ihm nur sehr selten etwas. Auch heute hatte Sean sofort erkannt, dass Payton etwas vor ihnen verbarg. Doch er war nicht der Typ, der anderen auf die Nerven ging, indem er bohrende Fragen stellte. Dafür war Payton ihm dankbar. Er würde seinen Lieblingsbruder nur ungern belügen, doch in diesem Fall, konnte er mit niemandem sprechen, ehe er nicht selbst mehr wusste. Payton durchquerte die weite offene Halle, an deren Kopfseite eine enge gewundene Treppe nach oben führte. Das alte Gemäuer war düster und kalt, ebenso wie die Menschen, die es bewohnten. Zum zehnmillionsten Mal kam Payton dieser Vergleich so treffend vor, dass er sich fragte, ob die Burg vielleicht nur deshalb so bedrohlich schien, weil sie von ihnen bewohnt wurde.
Erst als sich die schwere Tür zu seinem Zimmer hinter ihm schloss, atmete er erleichtert durch. Was war nur mit ihm los? Was passierte mit ihm? Er stellte sich prüfend vor den großen Standspiegel und musterte sich. Abweisende, dunkelbraune Augen sahen ihm daraus entgegen. Sein voller Mund war verkniffen und hatte schon sehr lange nicht mehr gelächelt. Die alte bogenförmige Narbe am Kinn verlieh ihm ein gefährliches Aussehen. Seine hellbraunen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab. Er strich sich unbewusst mit den Fingern durchs Haar, um es zu ordnen, während er sein Spiegelbild weiterhin betrachtete. Ein ziemlich großer, gut gebauter junger Mann, genau wie immer. Er konnte nichts erkennen, dass sich verändert hatte. Aber warum war dann nichts mehr so, wie es vorher war?
Kapitel 5
Meine ersten Tage in Schottland waren wie im Flug vergangen. Die Sightseeingtour wurde nun durch das Wochenende unterbrochen und ich verbrachte viel Zeit mit Alison und Roy. Alison war lustig und lachte viel. Sie erledigte ihre Hausarbeit scheinbar nebenbei, während sie mir Geschichten erzählte oder kleine Gefechte mit Roy austrug. Und obwohl sie in diesem ungleichen Paar die deutlich schlechteren Ausgangsbedingungen hatte, gewann sie mühelos jeden Streit. Roys Größe führte bei Alison nicht zu dem nötigen Respekt.
Ich fühlte mich sehr wohl bei ihnen. Die gemütliche Wärme in dem Häuschen mit den rosafarbenen Fensterläden und dem mit Rosen überwachsenen Bogen vor der Haustür übertrug sich auch auf mich. Doch ich konnte nicht sagen, dass es mir gut ging. Das ganze Wochenende über war ich unruhig und fühlte mich verfolgt. Ich konnte dieses Gefühl nicht genauer benennen. Wann immer ich mich verstohlen umsah, gab es nichts, dass mein Mistrauen geweckt haben konnte. Trotzdem spürte ich immer wieder einen Blick im Rücken oder meine Nackenhärchen stellten sich auf. Allerdings war das Gefühl nicht stark genug, als dass ich mich Alison damit anvertraut hätte. Es war vermutlich genau, wie Roy bei meiner Ankunft gesagt hatte: Schottland machte aus den Menschen abergläubische Angsthasen.
Am Montagmorgen hatte ich das Haus für mich allein. Roy war Lehrer und demnach schon Morgens aus dem Haus gegangen. Alison hatte sich bereits am Vorabend wortreich bei mir entschuldigt. Sie hatte geschimpft, dass es einen Notfall gab, der es erforderlich machte, dass sie in den nächsten Tagen im
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