Bollinger und die Barbaren
– obwohl der ein Ekel
war ...«
»Ja, das Leben mit Schmerzpatienten ist nicht einfach. Wir können hier ein Lied davon singen. Wie war noch mal der Name Ihres
Onkels?«
»Hagenau. Jean Hagenau.«
Wieder dieses ungemein tiefe Schweigen, zu dem nur verliebte Krankenschwestern im fernen Lüttich in der Lage waren.
|204| »Sie sind also sein Neffe ... Und Sie wollen für Dr. Dubois bürgen ...«
»Im Golfklub hört man auf mich. Gut, wir haben seit fünf Jahren Aufnahmesperre, sogar der Antrag von Claus von Amsberg wurde
abschlägig beschieden ...«
»Der Arme.«
»Obwohl man lange diskutierte – wegen seiner Krankheit. Aber der Schriftführer hat gesagt, die Statuten seien klar: Aufnahmestopp
ist Aufnahmestopp.«
»Und Sie meinen, auf Sie hört dieser Schriftführer?«
»Versprechen kann ich nichts. Aber er ist mein Schwager, und wenn meine Frau, also seine Schwester, ihn mal beiseite nehmen
würde ...«
»Verstehe.«
»Einfach wird es nicht werden, aber ich wollte trotzdem, dass Dr. Dubois weiß: Es besteht Hoffnung.«
»Das wird ihn sicher glücklich machen. Er hat sich ja auch sehr um Ihren armen Onkel gekümmert.«
»Ich weiß, Onkel Jean war schwierig. Steinreich, aber völlig verwahrlost ...«
»Wir dachten hier, er sei Sozialhilfeempfänger.«
»Das war seine Masche. In Wirklichkeit besaß er Aktien im Wert von mehreren Millionen Euro.«
Plötzlich hatte die Oberschwester viel Zeit. »Wussten Sie, dass Männer und Frauen den Schmerz unterschiedlich stark empfinden?
Bis vor zehn, fünfzehn Jahren hat die Schmerzforschung jedoch nur Männer untersucht und die Werte einfach auf die Frauen übertragen.
Als man dann das Gehirn mit Computertomografen erforschen konnte, hat man festgestellt, dass Frauen viel weniger schmerzlindernde
Endorphine ausschütten als Männer. Und da heißt es immer, Frauen sind auf Schmerz geeicht, sie bringen schließlich Kinder
zur Welt. Dabei empfinden sie den Schmerz früher, häufiger, heftiger und länger. Bei Hitze zum Beispiel liegt die weibliche
Schmerzgrenze bei 43 Grad Celsius. Männer haben erst bei 46 Grad ein Schmerzempfinden. Genauso |205| bei Elektrizität: Für Frauen sind bereits 15 Volt schmerzhaft, Männer halten es gut bis 21 Volt aus. Interessant, nicht?«
»Sie behandeln also Menschen, die Schmerzen haben?«, fragte ich etwas dämlich.
»Unsere Patienten haben Schmerzen, die sie in den Selbstmord treiben können ...«
Ich dachte an Jean Hagenau. Wenn er bei dem Wunderdoktor Dubois in Behandlung war, hatte er doch keinen Grund mehr, sich umzubringen.
». .. da helfen die bekannten Schmerzmittel kaum noch«, fuhr die Oberschwester fort. »Wir greifen zu härteren Medikamenten,
die die Patienten vertragen. Die meisten starken Schmerzmittel machen nämlich abhängig oder schädigen wichtige Organe, wenn
man sie in hohen Dosen regelmäßig einnimmt.«
»Und was geben Sie für geheimnisvolle Mittel?«
Sie kicherte. »Sie werden es nicht glauben: körpereigene Stoffe. Hormone. Sehen Sie, auch wenn Frauen schmerzempfindlicher
sind, gibt es Situationen, in denen sie extrem wirksame Hormone ausschütten, die die Wahrnehmung und Verarbeitung eines Schmerzreizes
ausschalten. Langweile ich Sie?«
»Nein«, antwortete ich schnell. Wir kamen der Sache immer näher.
»Zum Beispiel kann die Ausschüttung von Östrogen und Progesteron, so wie sie kurz vor einer Niederkunft auftritt, äußerst
schmerzmindernd wirken. So überstehen Frauen besser die für Männer unerträglichen Geburtsschmerzen.«
Hormone – überall Hormone. Man durfte nicht darüber nachdenken, wie diese Wirkstoffe unser Leben bestimmten. Von Freiheit
konnte da keine Rede mehr sein.
»Aber der Schmerz sei viel komplexer, sagt Dr. Dubois immer. Es sei nicht allein die Biochemie, auch die Psychologie spiele
eine Rolle. Rollenverhalten, Abhängigkeit, Hilflosigkeit bedingen das Schmerzempfinden. Wir hier betreiben deshalb eine ganzheitliche
Therapie – wobei die Hormone natürlich die Hauptrolle spielen.«
|206| »Natürlich.«
»Ihr Onkel war ein Musterpatient, ein Glücksfall für die Schmerzforschung, wenn ich das so sagen darf. Aber dann ist ihr Onkel
verschwunden ...«
»Der Schmerz hat ihn getrieben. Ihre Hormone konnten ihm nicht helfen.«
»Wir haben Rückfälle – aber auch denen können wir helfen. Auf jeden Fall wäre es für unsere Studie besser gewesen, wenn er
geblieben wäre. Wir haben dafür gesorgt, dass die Polizei ihn in Ruhe
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