Bomann, Corinna - Clockwork Spiders
geschlafen?«, flötete sie, während sie durchs Zimmer eilte und die Vorhänge zurückzog. »Lady Emmeline hat mich angewiesen, Ihnen eines Ihrer Ausgehkleider herauszusuchen. Sie möchte gleich nach dem Frühstück einen kleinen Ausflug machen.«
»Dann hat sie sich also von dem Schrecken erholt?«, fragte Violet, während sie sich im Bett aufsetzte und sich die Augen rieb. Eigentlich war sie noch zu müde, um sich zu ärgern, doch es passte ihr nun mal überhaupt nicht in den Kram, dass ihre Mutter gerade heute einen Spaziergang machen wollte, und insgeheim wünschte sie sich, dass die Migräne doch noch einen Tag länger angehalten hätte. Jetzt würde sie den Vormittag damit verbringen müssen, endlose Parkwege entlangzuschlendern und womöglich in sämtlichen Schmuckgeschäften der Stadt nur geringfügig variierende Schmuckstücke zu betrachten. Dabei brauchte sie die Zeit so dringend, um die Herkunft der Spinne zu ermitteln – und herauszufinden, wie sie in Lord Stantons Körper gekommen war.
»Mylady geht es wieder gut, sie möchte unterwegs auch nach Trauerkleidern Ausschau halten für die Bestattung.«
»Meine Mutter möchte Kleider in einem Laden kaufen?«, platzte es aus Violet heraus. Nun schien im Haus Adair alles kopfzustehen. Auch wenn die Zeit drängte, wurde normalerweise die Schneiderin gerufen, die dann ihre Nähmägde Tag und Nacht beschäftigen konnte. Belgravia verfügte natürlich auch über edle Boutiquen, aber die waren doch nichts für Lady Emmeline Adair!
»So sagte sie es mir.« Mary senkte ein wenig verlegen den Kopf.
Aha, die Dienerschaft wundert sich also auch darüber, dachte Violet. Gleichzeitig verspürte sie noch weniger Lust, ihre Mutter zu begleiten. Auch wenn sie eine Boutique aufsuchten, hieß es nicht, dass sie eine schnelle Entscheidung treffen würde. Wahrscheinlich würde Violet eine halbe Ewigkeit in verschiedenen schwarzen Kleidern posieren müssen, bis sie eines davon für geeignet hielt. Ebenso wie Bälle waren Trauerfeiern sehr wichtig im gesellschaftlichen Leben des Adels. Wer durch ein mangelhaftes Kleid auffiel, wurde sogleich geächtet und erhielt bei offiziellen Teestunden einen schlechteren Sitzplatz.
Allerdings fragte sich Violet, warum ihre Familie überhaupt bei der Beerdigung erscheinen wollte. Wenn sie sich blicken ließen, würde wahrscheinlich niemand mehr auf die Predigt des Reverends hören, sondern alle würden nur sie anstarren und womöglich böse Vermutungen hin- und hertuscheln.
»Richte meiner Mutter aus, dass ich mich auf den Ausflug freue«, erklärte Violet, obwohl das ganz und gar nicht der Fall war.
»Sehr wohl.« Mary knickste und verschwand.
Während sich Violet aus dem Bett erhob, überlegte sie, wie sie dem Einkaufsbummel entkommen konnte. Ihre Mutter hatte sehr gute Augen und ein hervorragendes Gespür für Lügen. Besonders in der ersten Zeit hatte Violet bei ihren geheimen Experimenten achtgeben müssen, dass sie sich nicht in irgendeiner Weise verriet. Sie war eine zu schlechte Lügnerin. Auch bei dem Versuch, eine Krankheit vorzuschützen, hatte sie stets versagt.
Nachdem sie eine Weile in ihrem Zimmer auf und ab gegangen war, kam ihr plötzlich die rettende Idee. Wenn es schon nichts brachte, eine Krankheit vorzutäuschen, musste sie eben eine haben!
Genau in diesem Augenblick klopfte es. Seltsamerweise erschien Alfred persönlich, um ihr das Kleid zu bringen, das Mary herausgesucht hatte. »Alfred, Sie müssen mir unbedingt helfen.«
Während der Butler die Bänder und Schleifen so sorgsam auf dem Bett drapierte, als sei das Kleid dazu gedacht, dort liegen zu bleiben, fragte er: »Wobei denn, Mylady?«
»Meine Mutter plant einen Ausflug, der meine Pläne für den heutigen Tag durchkreuzt. Sie wissen schon …«
Alfred richtete sich auf und runzelte die Stirn. »Sie meinen den Botanischen Garten?«
»Genau das! Ich will wissen, was das für eine Spinne ist! Stattdessen will meine Mutter einkaufen – Trauerkleider, in einer Boutique, stellen Sie sich das mal vor – und darauf habe ich nun wirklich keine Lust. Außerdem muss ich meine Ermittlungen vorantreiben. Lady Sharpe ist sicher schon viel weiter als wir.«
»Kein Wunder, sie verfügt ja auch über das Hauptindiz aus dem Magen des Toten.«
»Wir haben keine Zeit für Spitzfindigkeiten«, murrte Violet. »Haben Sie nicht irgendeine Besorgung in der Stadt zu machen?«
»Rein zufällig ja, Mylady, Seine Lordschaft hat mich gebeten, einen neuen Humidor abzuholen,
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