Bomann, Corinna - Clockwork Spiders
Southwark schon recht gespenstisch. In keinem der Häuser brannte mehr Licht. Auch das Klagen und Schimpfen war verklungen. Zu dieser Zeit strich nur noch der Wind durch die schmutzigen Gassen.
Auch am alten Fabrikgebäude war alles ruhig. Schwarz zeichnete sich das Haus vor dem Nachthimmel ab, über den mondbeschienene Wolken hinwegjagten.
Der Kies unter ihren Füßen knirschte laut, als sie zum Labor gingen. Die ganze Zeit über blickte sich Alfred wachsam um, doch es gab offenbar keinen Grund zur Beunruhigung.
Im Labor stellte Violet ihren Fang auf den Tisch. Wie gut, dass außer ihnen niemand in dem Seitenbahnwaggon gewesen war! Abgesehen von bestimmten Botanikern kannte sie niemanden, der Spinnen mochte. Und sie bekam wieder eine Gänsehaut, als sie das lauernde Tierchen betrachtete. Dann rief sie sich allerdings zur Ordnung. Du musst es von der wissenschaftlichen Seite betrachten. Das Tier kam aus einer Leiche. Doch wie kam es hinein? Hausten diese Spinnen in der Morgue? War sie auf dem Weg zum Kühlraum in Lord Stanton gekrabbelt?
»Alfred, wären Sie bitte so gut, mir den Tropenatlas zu bringen? Er muss da hinten in irgendeiner Kiste stecken.«
»Sehr wohl, Mylady.«
Während der Butler zwischen den Regalen verschwand, kramte Violet nach ihrem Vergrößerungsglas, das sich irgendwo zwischen all dem Werkzeug, den Heften und Kladden, den Drahtstückchen und Stahlteilen, den Apfelbutzen und Ölkännchen befinden musste. Dabei stieß sie versehentlich gegen das Regal zu ihrer Rechten, woraufhin sich ein Karteikasten verselbstständigte und eine seiner Schubladen ausspie. Während sie zur Seite sprang, um die Schublade aufzufangen, bevor sich die enthaltenen Karten über den ganzen Boden verteilen konnten, stieß sie mit der Hüfte gegen das Spinnenglas. Die kleine Schublade bekam sie zu fassen, doch das Glas kippte zur Seite. Dabei verlor es den provisorischen Papierdeckel und entließ die Spinne in die Freiheit.
Als Violet den Karteikasten abstellte, bemerkte sie, dass die Spinne auf ihre Hand zuschoss. Instinktiv ergriff sie ein Lineal, das ganz in der Nähe lag und schlug blitzschnell auf das Tier. Als die Spinne die Beine einrollte und reglos liegen blieb, atmete Violet zunächst erleichtert auf, dann fluchte sie leise. »Verdammt, ich wollte sie doch lebend!«
Alfred, der auf ihren Schrei hin sogleich herbeigeeilt war, schob bewundernd die Unterlippe vor. »Sauber erledigt, Mylady.«
Violet schnaufte ärgerlich. »Ja, aber eigentlich wollte ich sie doch lebend!«
»Wenn sie tot ist, kann sie Ihnen nichts mehr tun, aber untersuchen können Sie sie trotzdem noch.« Damit reichte er ihr das Buch, das er unter dem Arm trug. »Sind Sie sicher, dass Sie die Spinne darin finden werden?«
»Ich hoffe es. So eine Spinne habe ich hier noch nie gesehen, schauen Sie sich doch mal die Zeichnung am Bauch und an den Beinen an. Das kräftige Rot und Orange schreit geradezu nach den Tropen.«
Den Tropenatlas hatte ein Bekannter irgendwann einmal ihrem Vater mitgebracht. Violet hatte ihn sich ausgeliehen, weil sie in einer Zeitschrift gelesen hatte, viele Erfinder würden sich bei ihren Maschinen von der Natur inspirieren lassen. Allerdings hatte sie darin nur wenig Hilfreiches gefunden. Jetzt war sie allerdings glücklich, das Buch hierzuhaben.
Nachdem sie die tote Spinne mithilfe einer Pinzette auf ein Blatt Papier geschoben hatte, schlug sie das schwarze Buch auf. Unglücklicherweise war das Kapitel über tropische Spinnen ein wenig kurz, was der Verfasser damit erklärte, dass die Spinnen in der tropischen Umgebung, die voller leuchtender Blüten war, hervorragende Tarnmöglichkeiten hätten. Eine schwache Ausrede, fand Violet. Wahrscheinlicher war, dass ihn seine Angst davon abgehalten hatte, genauer hinzusehen.
Nachdem sie das Kapitel erfolglos durchgeblättert hatte, legte sie die Spinne mit der Pinzette wieder ins Glas zurück.
»Ich werde jemanden fragen müssen, der sich besser damit auskennt.«
»Und wen haben Sie da im Sinn?«, fragte Alfred, der die Spinne die ganze Zeit über angestarrt hatte, als sei sie ein Ungeheuer.
»Einen Forscher im Botanischen Garten«, antwortete Violet und klappte das Buch zu. »Gleich morgen werden wir ihm einen Besuch abstatten.«
8. Kapitel
Schon als Mary mit erwartungsvoll gerötetem Gesicht durch die Tür trat, wusste Violet, dass ihr Plan, an diesem Nachmittag den Botanischen Garten zu besuchen, in Gefahr war. »Guten Morgen, Lady Violet, haben Sie gut
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