Bombay Smiles
Selbstverteidigung, um mich vor
einem Zusammenbruch zu schützen. So wurde mir aber auch die Last meiner Aufgabe bewusst - und dass ich mit der geringsten emotionalen Schwäche, die ich zuließ, das gesamte Projekt gefährden würde. Ich durfte mir also keine Schwächen erlauben, sondern musste alle Kraft darauf verwenden, meine Pläne in Taten umzusetzen.
Sich dieser Verpflichtung zu stellen, bedeutete, dass der Mittzwanziger Jaume, der Spaß daran hatte, auf seinem Motorrad durch Barcelona zu brausen, für eine gewisse Zeit zu existieren aufhörte, um Sonrisas de Bombay Platz zu machen, diesem Projekt, das jetzt schon alles für mich bedeutete.
Ich durfte auf keinen Fall den Mut verlieren, weil sich das negativ auf meine Organisation auswirken konnte und somit auf die Zukunft der Kinder. Und Müdigkeit konnte ich mir auch nicht leisten. Wenn es spät wurde und mir die Augen zufielen, brauchte ich allerdings lediglich das kleine Fotoalbum durchzublättern und die Gesichter der Kinder zu betrachten, schon konnte ich den Computer wieder anmachen und Bilanzen erstellen, Pläne entwerfen und Ideen sammeln, damit meine kleinen Helden in Bombay nie mehr auf ein herzliches Zuhause verzichten mussten.
Ich musste lernen, Schmerz in Stärke und Mut umzuwandeln, damit ich meine Arbeit fortsetzen konnte und für meinen friedlichen Kampf gegen die Armut genug Energie fand.
Erst als ich alle Unterlagen und Genehmigungen beisammen hatte, rief ich Atul wieder an. In meinen Telefonaten mit ihm war ich nie tiefer ins Detail gegangen, aus Angst, damit allzu große Hoffnungen in ihm zu wecken, die, falls mein Vorhaben am Ende doch scheiterte, bitter enttäuscht würden. Das wollte ich auf gar keinen Fall.
»Ich werde nach Bombay ziehen, Atul. Das Waisenhaus muss nicht schließen. Ich erkläre dir alles genauer, wenn ich da bin.«
Ich legte auf und presste mir den Hörer ans Herz. Dabei betrachtete ich ein Bild der Kinder, das ich vor ein paar Tagen eingerahmt und so hingestellt hatte, dass ich die Gesichter gleich nach dem Aufwachen sehen konnte. Nur noch zwei Tage, dann würde ich die Koffer mit meinen Habseligkeiten sowie den Reichtümern für sie packen. Doch ging es für mich nicht nur um irgendeine Reise nach Bombay. Es ging um die Reise meines Lebens.
11
Gott wird belohnen
Wenn es in unserer verwirrten Welt von heute so
viel Lüge gibt, dann, weil die Menschen die
Rechte von Erleuchteten einklagen, ohne sich
der geringsten Disziplin zu unterwerfen.
Um zur Wahrheit zu gelangen, ist es vor allem
notwendig, große Demut zu zeigen. Um das
Herz des Ozeans zu durchdringen, den die
Wahrheit bildet, muss man sich entscheiden,
nichts mehr sein zu wollen.
GANDHI
Ich kam voller Elan in Bombay an, weil ich genügend Spendengelder gesammelt hatte, um die finanziellen Löcher des Waisenhauses auszubessern, mit frischem Mut aufzufüllen. Vorübergehend übernachtete ich im Haus eines der Lehrer, etwas später wollte ich mir eine eigene Bleibe suchen.
In der ersten Nacht schlief ich ruhig, war glücklich. Es war vollbracht. Die Kinder konnten bleiben. Und ich hatte mein Plätzchen im Puzzle der Welt gefunden.
Ich wusste, dass ich nicht am selben Ort wie die Kinder wohnen wollte. Wenn ich etwas über dieses Land gelernt hatte, dann, dass sehr schnell sehr viel über dich hinter deinem Rücken geredet wird. Und ich wollte unbedingt verhindern, solcherlei Gerüchte über mich selbst zu hören, wie sie mir schon von anderen Ausländern zu Ohren gekommen waren, die ebenfalls mit Minderjährigen arbeiteten.
Wir waren uns einig, dass das Kartika Home eine familiäre Atmosphäre ausstrahlen sollte. Und falls es erweitert werden sollte, wollten wir darauf achten, dass es die vorhandene Struktur beibehielt. Die Kinder sollten auf jeden Fall, auch wenn ihre Zahl eines Tages anstiege, wie in einer Familie leben. In jedem der neuen Häuser, die wir an das bestehende Gebäude anbauen wollten, sollte eine kleine Gruppe von Kindern mit einem Ehepaar leben.
In unserer Vorstellung bestehen Waisenhäuser aus riesigen Sälen mit endlosen Reihen von Stockbetten sowie einem Aufseher, der die Kinder mit übertrieben strengen Erziehungsmethoden in eine bestimmte Richtung drillt.
Diese Vorstellung war aber das Letzte, was mir für unsere Kinder vorschwebte. Sicher ist Disziplin eine Voraussetzung für jede Erziehung. Doch wenn die Kinder mit einem Ehepaar in kleinen Wohneinheiten lebten, konnten sie sich wie zu Hause fühlen und jene Unterstützung
Weitere Kostenlose Bücher