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Bombay Smiles

Bombay Smiles

Titel: Bombay Smiles Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Sanllorente
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dass mich unbändige Wut überkam.
    Bei einem Slum-Nachbarn lieh ich mir einen Eimer mit Wasser und befreite die vier Kinder von den Resten der Gewalttat. Dann rief ich die Polizei an, um herauszufinden, in welches Gefängnis ihre Mutter gebracht worden war. Wir mussten die Kinder
mit ins Waisenhaus nehmen, das war klar. Wir sprachen mit den Nachbarinnen und sie bestätigten, dass die Kinder schutzlos waren, keiner vor Ort sich um sie kümmern konnte.
    Das Verfahren, das uns erwartete, war langwierig und kompliziert. Leider konnten wir die Kinder nicht einfach mitnehmen und basta, denn dies wäre einer Entführung gleichgekommen. Wir brauchten zuerst die Einwilligung des Vormunds, was alles andere als leicht war, denn der Vater war ja gerade erst umgekommen. Und die Mutter saß in irgendeinem Gefängnis. Wir wussten nicht mal wo.
    Außerdem mussten wir alle Geburtsurkunden der Kinder besorgen. Wenn sie nicht in der Hütte lagen - was sehr wahrscheinlich war, denn die Familie stammte nicht aus Bombay und die meisten Kinder wurden ohnehin nicht gemeldet -, musste man mit den Behörden im Bundesstaat ihrer Herkunft in Verbindung treten, dort die Urkunden anfordern.
    Gleichzeitig mussten wir ein Verfahren bei der zuständigen Behörde der Zentralregierung in Delhi einleiten, die für uns als gemeinnützigen Verein zuständig war und die Genehmigungen für Neuaufnahmen erteilte. Da ich als Weißer und Nicht-Inder in den Ablauf eingebunden war, dürfte sich alles unendlich in die Länge ziehen. Wenn man dann noch bedachte, dass jeder einzelne dieser Schritte
Tage dauerte, konnten Monate vergehen, bis wir die Kinder bei uns aufnehmen durften.
    Deshalb trafen wir vorerst mit einer Bekannten aus der Nachbarschaft eine Vereinbarung: Sie sollte hin und wieder nach den Kindern sehen, bis wir die Formalitäten erledigt hätten.
    Mir wollte das nicht in den Kopf: Es war den indischen Behörden lieber, die Kinder alleine auf der Straße zu lassen, ganz und gar auf sich selbst gestellt, als die bürokratischen Schritte ein wenig zu erleichtern, damit die Kinder bei uns unterkommen konnten.
    Wie man Problemsituationen schaffen kann, ohne jedwede Alternativen anzubieten, habe ich noch nie verstanden. Es war ja richtig, nicht dem Erstbesten zu vertrauen, der die Kinder mitnehmen wollte. Was ich nicht verstehen konnte, war, dass die Kinder auf der Straße leben mussten und damit der Gefahr ausgesetzt waren, von Erwachsenen in irgendeiner Weise missbraucht zu werden.
    Letztlich hat es drei Monate gedauert, bis wir die vier Kinder aufnehmen konnten. Anfangs waren sie sehr ängstlich und durcheinander, aber wir gingen mit Liebe und bar aller Zwänge auf sie zu, sodass sie sich bald öffneten und lernten, uns zu vertrauen - sie brauchten wohl ihre Zeit, mussten sich uns in der ihnen eigenen Geschwindigkeit nähern. Wir konnten sie lediglich mit unseren Umarmungen und zärtlichen Worten unterstützen.

    Wenige Tage später unterbrach ein anderer Anruf mein Hindi-Studium im Büro. Jitesh und Robita, zwei der Erzieher, teilten mir aufgeregt mit, dass der Cousin einer ihrer Bekannten unsere Hilfe brauchte. Er hieß Santosh, war 14 Jahre alt und sein Vater war vor wenigen Wochen verstorben.
    Wie es aussah, lebte der Junge eine Zeit lang mit seinem Vater auf einem freien Feld in der Nähe des Bahnhofs von Dadar. Nach dem Tod der Mutter hatten sich die beiden, die aus Rajasthan stammten, dort niedergelassen. Nachdem sein Vater gestorben war, schloss sich Santosh einer Straßenbande an, zudem wurde sein Gesundheitszustand immer schlechter.
    Als wir am Bahnhof Dadar ankamen, sahen wir uns ein wenig um, konnten aber nirgendwo Gauner entdecken. Deshalb nahmen wir uns die verborgen Winkel der großen Bahnhofshalle vor.
    Wir trafen auf eine Gruppe Jugendlicher dort, die Klebstoff aus einem Plastikbeutel schnüffelte. Die Jugendlichen lachten und machten schmutzige Witze, wobei es ihnen schwerfiel, überhaupt verständlich zu reden.
    »Wer von euch heißt Santosh?«
    »Der da hinten«, antworte einer im provokanten Tonfall eines Heranwachsenden.
    Santosh war schlank, sehr dunkelhäutig. Er lag da, der Kopf auf einer Holzkiste, die ihm als Kissen diente. In der linken Hand hielt er eine Plastiktüte,
in der rechten die Reste eines Joints. Seine Augen waren völlig verdreht, man sah nur ihr Weiß. Einen Moment lang zweifelte ich: Lebte er noch? Da bäumte sich sein Körper plötzlich auf. Als wir ihn stützten, erbrach er rosafarbenen Schleim - und hörte

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