Bombay Smiles
gearbeitet hatte, zukommen ließen. Auch von meinen Krawatten, die Zeugen so vieler journalistischer Konferenzen gewesen waren, trennte ich mich. Ich begann zu lernen, wie einfach es ist, auf materielle Dinge zu verzichten. Nichts von all dem, was wichtig ist, kann man mit Geld bezahlen.
Ich würde keine Anzüge und Krawatten mehr brauchen, denn ich fand ja einen Ort, der mich berührt
hatte und an dem ich mich nicht zu verkleiden, nicht zu maskieren brauchte, da ich dort ganz ich selbst sein durfte. Seither habe ich nie mehr Kleidung benötigt als einige Hemden, zwei Paar Hosen, ein Paar Sandalen und ein Paar feste Schuhe für Konferenzen in Europa oder den USA.
Als ich meine Habseligkeiten unter die Leute brachte, wurde ich häufig gefragt, was mir zugestoßen sei. Die meisten dachten wohl, ich wolle meinem Leben aufgrund einer schlechten Erfahrung eine neue Richtung geben. So war es aber ganz und gar nicht. Man kann nicht sich selbst oder einer grundsätzlichen Unzufriedenheit durch eine räumliche Veränderung aus dem Weg gehen. Damit man einen großen Wandel durchsetzen, sich zu einem unbekannten Flug aufschwingen kann, muss es einem gut gehen, sehr gut sogar. Ich war immer sehr glücklich gewesen. Ich zog nicht nach Indien, um vor etwas davonzulaufen.
Mein eigenes Leben ist mir nicht mehr wichtig. Es geht mir nur noch um das Leben der anderen. Insbesondere das Leben meiner kleinen großen Freunde im Waisenhaus nördlich von Bombay. Durch sie habe ich das Geheimnis wahren Glücks kennengelernt.
Man kann nur dann wirklich glücklich sein, wenn man das Glück der anderen im Blick hat, sich für fremdes Glück einsetzt. Die Erfüllung, die man durch das Glück der anderen erfährt, ist mit Worten nicht zu beschreiben.
Als ich von der Generalitat die vorläufigen Papiere ausgehändigt bekam, drückte ich mir die Aktentasche, wo ich sie untergebracht hatte, den ganzen Tag lang an die Brust. Nicht einmal zum Essen legte ich die Aktentasche aus der Hand. In diesen Papieren lag die Hoffnung vieler Waisen. Ich hatte schon Unterstützung erhalten, arbeitete aber an einem System, um noch mehr Mitglieder zu werben, damit die Organisation eine solide Basis erhielt und vielleicht noch mehr Kinder ins Heim aufgenommen werden konnten. Dazu mussten allerdings weitere Menschen von meinem Projekt erfahren. Es reichte nicht aus, sich auf meine bestehenden Kontakte und Freunde zu verlassen.
Ich traf mich mit einer Frau, die mehrere Firmen besaß, welche in den vergangenen Jahren mit Erfolg expandiert haben.
»Was kann ich tun, damit uns mehr Leute finanziell unterstützen? Wie macht ihr das? Gibt es da bestimmte Strategien?«
»Ich glaube«, sagte sie ruhig, »du musst nur weitermachen wie bisher. Erzähle mit Leidenschaft von dem Projekt. Wenn du es in der Öffentlichkeit mit genauso viel Enthusiasmus präsentierst wie bei deinen Freunden, wird es wie von selbst laufen. Wenn du diese Leidenschaft nicht verlierst und weitergeben kannst, wird die Organisation erfolgreich.«
Diesen Rat habe ich befolgt - und das Ergebnis kann sich sehen lassen.
Endlich war es dann soweit: Nach sechs Wochen Irrsinn reiste ich wieder nach Bombay. Geld und die endgültige Satzung hatte ich in der Tasche. Alles käme in Ordnung, das Waisenhaus würde hoffentlich nie mehr in existenzielle Gefahr geraten.
Zuvor schickte mir Atul wie vereinbart Dossiers der einzelnen Kinder. Ich setzte mich damit in Barcelona in ein Café und arbeitete sie durch. Als ich das Café wieder verließ, war ich in Tränen aufgelöst. Obwohl ich mich sehr schämte, meine Gefühle in der Öffentlichkeit zu zeigen, musste ich weinen. Der Grund war simpel: Jedem der schrecklichen Schicksale konnte ich jetzt einen Namen, ein Gesicht, ein Lächeln zuordnen - das war es, was mich so fertigmachte. Es ging hier nicht um irgendwelche Kinder aus der Dritten Welt. Auf den abgegriffenen Blättern standen die Schicksale von Pooja, Babu, Neeta und all den anderen Kindern, mit denen ich vor etwas mehr als einem Monat gespielt und gelacht hatte und die seither zum Mittelpunkt meines Lebens geworden waren.
Nach dieser Erfahrung errichtete ich in meinem Innern eine winzige »Recyclingfirma«. Ich beschloss, jeden Kummer, jedes schmerzliche Erlebnis, das ich in Bombay mitmachen müsste, in Energie und Antriebskraft für das Projekt umzuwandeln. Diese Überlebensstrategie war für den Weg, den ich im Begriff war einzuschlagen, absolut unabdingbar. Ich brauchte sie zu meiner
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