Bombay Smiles
bitte.«
»Sie müssen nach Matunga. Es ist dringend. Etwas Schreckliches ist passiert. Wir müssen uns beeilen, sonst ist es zu spät.«
»Zu spät wofür? Jetzt erklärt mir doch, was los ist.«
»In den Slums, Jaume ji. Eine Frau, deren Mann sie schon mehrmals mit Säure angegriffen hatte, hat sich an ihm gerächt. Sie hat ihm mit einem Stein auf den Kopf geschlagen, während er schlief. Sie hat ihm den Schädel zertrümmert. Das Paar hat vier Kinder. Die Polizei wird die Frau verhaften und die Kinder bleiben alleine zurück.«
Wir fuhren mit dem Lieferwagen sofort los. Eine Straße voller Schlaglöcher entlang. Ein Höllenverkehr überall um uns herum.
Als wir in Matunga ankamen, sah ich die vier Kinder. Sie weinten ununterbrochen, wurden von Seufzern geschüttelt. Die drei Mädchen waren alle
unter zehn, der Junge war vielleicht zwei Jahre alt. Die Kleidung der Kinder zeigte weiße Flecken. Zuerst wusste ich nicht, was das für Flecken waren. Doch dann kam ich darauf.
Es waren Gewebestücke. Stücke des Gehirns ihres eigenen Vaters, das bei den Schlägen mit dem Stein durch die ganze Baracke verteilt worden war.
Die Polizei war schon weg. Die Beamten hatten sich anscheinend mit einem Versprechen zufrieden gegeben. Die Onkel dieser Kinder, die angeblich in einer nahen Hütte lebten, versprachen der Polizei nämlich, die Kinder nach Tamil Nadu zu bringen, woher die Familie stammte.
Eine Vorahnung plagte mich. Die Geschichte mit den Onkeln fand ich vollkommen unglaubwürdig. Mein Instinkt sagte mir, dass diese Kinder schutzlos waren.
Ich schaute mich um - und auf einmal war es nicht nur meine Intuition, die mir sagte, dass etwas Schlimmes vor sich ging. Auch mein Verstand war alarmiert. Wenn es etwas gibt, womit ich prahlen kann, dann mit meinem guten Gedächtnis. Und die beiden Männer, die ich da vor mir stehen sah, waren exakt dieselben Gestalten, die vor ein paar Monaten in ihrem schwarzen Wagen vor dem Waisenhaus gelauert hatten.
Einer von ihnen telefonierte, wobei er seine polierten Schuhspitzen betrachtete. Der andere sprach mit der Frau, die eben noch vorgegeben hatte, eine
Freundin der Onkel zu sein. Die Kinder weinten weiter - umgeben von vielen Leuten, unter denen aber offenbar nur wenige menschlich waren.
Die beiden Männer sahen ähnlich aus. Sie waren ungefähr 40 Jahre alt, groß und für Inder relativ stämmig. Beide hatten dichte Schnurrbärte. Ihre Hemden waren perfekt gebügelt und ihre Bundfaltenhosen makellos. Ihre Schuhe, schwarze Ledermokassins, glänzten wie Lackschuhe.
Ich ignorierte die Ratschläge, die mir Unbekannte aus dem Menschenpulk zuriefen und ging auf die Männer zu.
»Gibt es irgendwelche Probleme? Wir können gern zusammen zur Polizei gehen. Dann sehen wir, was wir für die Kinder tun können.«
Wir diskutierten heftig, wobei mich die Männer eindringlich musterten. Womöglich flößten ihnen meine Worte Respekt ein. Sie entfernten sich jedenfalls - warfen mir dabei jedoch verächtliche, gar hasserfüllte Blicke zu. Zuvor aber spuckten sie mir vor die Füße.
Es war das erste Mal, dass mich Leute anspuckten. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Nicht immer allerdings spuckten mir Leute ausschließlich vor die Füße.
Nach dem Zwischenfall erfasste mich große Zufriedenheit. Immerhin hat mich der Vorfall mit den beiden Männern gelehrt, dass Worte doch über Gewaltbereitschaft siegen können.
Die Frau, die sich als Freundin der Familie ausgegeben hatte, ging auf die andere Straßenseite und tat so, als habe sie mit den eben passierten Vorfällen nichts zu tun. Ich ging hinter ihr her. Sie beschleunigte ihre Schritte und fing schließlich an zu laufen. Ich rannte ihr hinterher, denn ich wollte herausfinden, was auf dem Zettel stand, den sie in der linken Hand hielt und den sie Minuten vorher den beiden Männern mit den zweifelhaften Absichten gezeigt hatte.
Ich holte die Frau ein und riss ihr den Zettel aus der Hand. Die Frau verschwand zwischen den Müllbergen, die die Straße säumten. Ich faltete den Zettel auseinander und verstand überhaupt nichts. Schriftliches Hindi kam in meinen ersten Unterrichtsstunden noch nicht vor. Ich bat einige Jungs, mir das Schriftstück zu übersetzen. Sie sahen sich ernst an und einer von ihnen stammelte zuletzt:
»Es sind Preise für die vier Kinder. Sie war dabei, sie zu verkaufen.«
Zorn ist ein Übel, wir müssen ihn in Gefühle umwandeln, die uns nicht verletzen. Trotzdem konnte ich in diesem Moment nicht verhindern,
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