Bombay Smiles
und Geborgenheit erfahren,
die sie für ihre Entwicklung brauchten. Liebe ist der alles entscheidende Impuls für ein Kind. Erst im liebenden Umfeld kann es umfassend wachsen und lernen und später mit sicheren Schritten durchs Leben gehen.
Selbst wenn ein Kind eine hochqualifizierte akademische Ausbildung, die weit und breit gesündeste Ernährung erhält, selbst wenn seine geistige Entwicklung von den weltbesten Experten überwacht wird, ist der Aufwand umsonst, wenn man dem Kind keine Liebe schenkt. Es gibt viele Beispiele wohlhabender Erwachsener, die an einer unterschwelligen Traurigkeit leiden, weil sie in ihrer Kindheit von einem Kindermädchen zum nächsten weitergereicht wurden, das heißt niemals eine feste Bezugsperson hatten. Im Spiel des Lebens siegt stets die Liebe.
In den ersten Wochen merkte ich, dass ich vor allem drei Dinge in meinen Überlebenskoffer packen musste, wenn ich den Alltag in Indien unbeschadet überstehen wollte. Die drei Dinge waren: Demut, Humor, Geduld.
Mit der Demut fing ich an. Vom ersten Tag an war mir bewusst: Ich war derjenige, der den Menschen hier dienen musste, nicht umgekehrt. Es war meine Entscheidung gewesen, alles aufzugeben und hierher zu kommen, um für ihre Bedürfnisse zur Verfügung zu stehen. Bevor man zu helfen versucht, sollte man fragen, was gebraucht wird. Man
sollte niemals voraussetzen, dass Hilfe immer willkommen ist. Oder glauben, dass man mit seiner westlichen Ausbildung hiesigen Menschen unbedingt etwas beibringen muss. Man lernt voneinander. Und beide Seiten profitieren am Ende.
Die Kinder bewiesen mir Tag für Tag, dass sie meine besten Lehrer waren.
»Was bedeutet dein Name?«, fragten sie mich immer wieder und sprachen ihn dann mit allen möglichen Betonungen aus.
»Jaume aus dem Hebräischen, von Jakob und bedeutet: Gott wird belohnen.«
»Das ist aber schön!«, riefen manche aus, während andere meine Antwort für diejenigen wiederholten, die mich nicht gehört hatten.
In der zweiten Woche hatte ich mich schon recht gut eingewöhnt und die ganzen Formalitäten erledigt, damit das Waisenhaus möglichst rasch seine Zuwendungen aus dem Ausland bekam.
Wir hatten entschieden, dass ich den Kindern Spanisch beibringen sollte. Es war ein sonniger Apriltag, als wir mit dem Sprachkurs begannen, und ich war sehr nervös. Eine kleine Garage neben dem Schlafsaal der Kinder diente als Schule. Der Monsun hatte die Garagenwände schwer in Mitleidenschaft gezogen, man konnte den Schimmel riechen, noch bevor man den Raum betreten hatte. Die Tapete war vergilbt, die Zeit hatte deutliche Spuren hinterlassen.
Kurz vor Beginn des Spanischunterrichts, wartete ich einen Augenblick an der Tür und beobachtete, wie die Kinder mit ihren abgewetzten Heften und auf Stummelgröße herunter geschriebenen Bleistiften eintrafen. Ich wartete so lange, bis ich ganz sicher war, dass sich alle im Raum befanden. Ich bemerkte, dass manche der Kinder lächelten und tuschelten, während einer von ihnen etwas an die Tafel schrieb, was ich von meinem Platz aus nicht sehen konnte.
»Der Lehrer ist blöd« oder »Der Weiße ist ein Trottel« - diese möglichen Boshaftigkeiten stellte ich mir vor zu sehen, sobald ich an die Tafel treten würde. Krampfhaft streckte ich mich, um zu erkennen, was diese jungen Menschen, von denen viele mitten in der aufmüpfigsten Phase der Pubertät steckten, da ausgeheckt hatten - vergeblich.
Als ich die Garage betrat, verstummte alles Getuschel. Mit strahlenden Augen sahen mich die Kinder an. Ich drehte mich zur Tafel um und war schon verärgert, weil mir sicher schien, dass an der Tafel ein Satz geschrieben stand, mit dem sie »Jaume Sir«, so nannten sie mich nämlich, durch den Kakao ziehen wollten.
Es verschlug mir die Sprache, als ich las, was auf der Tafel wirklich stand. In klaren, großen Lettern stand dort auf Englisch:
Jaume bedeutet, Gott wird belohnen.
Uns belohnt Gott mit Jaume.
Ich war überwältigt, meine Stimmbänder vor Rührung gespannt. Ich bat alle Götter um Vergebung, weil ich an der Güte dieser Kinder gezweifelt hatte.
Als ich am nächsten Tag über meinen Hindi-Lehrbüchern saß, kamen zwei Mitarbeiter des Waisenhauses aufgeregt in mein Büro gestürmt.
»Jaume ji, Jaume ji!« Es war das erste Mal, dass ich hörte, wie jemand meinen Namen mit dem Zusatz ji versah, der in Indien nur bei der Bezeugung von höchstem Respekt angebracht wird. Ich fühlte mich unbehaglich.
»Was ist denn passiert, beruhigt euch doch
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