Bombenspiel
Henning würde ebenfalls da sein.
»Was ist, gehen wir, oder …?« Er stoppte ihre reibenden Bewegungen mit seiner Hand und sog die Luft ein.
»Es ist Weihnachten«, hauchte sie. »Das Fest der Liebe …«
Samstag, 26. Dezember 2009, zweiter Weihnachtstag, Frankfurt am Main - Noch 166 Tage
Der Himmel zeigte an diesem Wintertag sein strahlendstes Blau, während die Nadelbäume am Straßenrand sich dem Raureif erwehrten. Sie hatte ausreichend Zeit und war früh genug losgefahren, um rechtzeitig am Flughafen in Frankfurt zu sein.
Irgendwie verrückt, dachte sie, setzt dich Hals über Kopf in eine Maschine nach Südafrika. Doch ihre Sehnsucht nach Henning war einfach größer als alles andere auf der Welt. Wie hatte sie sich durch den Heiligen Abend gequält, mit ihrer Schwester und deren Familie gegessen und unterm Weihnachtsbaum Geschenke ausgepackt. Sie musste die Tränen unterdrücken, als sie, vom Blockflöten- und Geigenklang ihrer Patenkinder begleitet, ›Stille Nacht‹ und ›Leise rieselt der Schnee‹ gesungen hatten, und hatte dabei unentwegt an Henning gedacht.
Allein und einsam in diesem fremden Land hatte er Heiligabend verbringen müssen und nicht einmal ein Geschenk von ihr erhalten. Immerhin hatte sie erst vor zehn Tagen von ihm erfahren, dass er Weihnachten in Südafrika bleiben würde.
Ihre Freundin Linda hatte sie schließlich auf die Idee gebracht, kurzfristig einen Flug nach Südafrika zu buchen. »Du vergräbst dich hier und gehst in deiner Einsamkeit ein. Warum überraschst du ihn nicht? Du fliegst am Abend los und wenn du aufwachst, bist du da!«, hatte sie am Telefon zu ihr gesagt.
»Ich weiß überhaupt nicht, ob ihm das recht sein wird. Er hat sicher viel zu tun, sonst wäre er nicht über Weihnachten in Durban geblieben.«
»Dann finde es doch einfach heraus. Sicher hat er viel zu tun, aber mehr als zwölf Stunden wird auch Henning nicht arbeiten. Und wenn du nur drei Tage bleibst, habt ihr 36 Stunden Zeit. Und das werden Stunden sein, die du nie vergessen wirst.«
Linda wusste sicher, wovon sie sprach. Sie war seit einigen Jahren mit Alan Scott zusammen, der in Afrika lebte und arbeitete. Sie hatten sich immer nur für kurze Zeit gesehen und Linda hatte jedes Mal davon geschwärmt. Jetzt war er zum ersten Mal für längere Zeit geblieben und die beiden würden den Jahreswechsel auf einer Skihütte in den Bergen verbringen.
»Alan soll endlich mal einen richtigen Winter kennenlernen«, hatte Linda gesagt, »und nicht nur den Schnee auf dem Kilimanjaro.«
Dann würde sie also wieder allein dasitzen, dachte Karin. Ihre Schwester fuhr mit ihrer Familie in den Taunus zu Freunden, Linda würde in Vorarlberg sein, und sich bei Bekannten, die sie eingeladen hatten, in einen festen Partykreis zu drängen, um ohne Partner einsam den Silvesterfrust zu schieben, dazu hatte sie keine Lust.
In der Maschine der SAS über Johannesburg nach Durban war noch ein Platz frei gewesen und so entfloh sie dem deutschen Matschwinter. In Stuttgart war der Schnee rechtzeitig vor Weihnachten wieder geschmolzen, aber kurz vor Pforzheim wurde die Landschaft weiß. Viele Familien waren zu einem Ausflug in den verschneiten Schwarzwald aufgebrochen, um wenigstens dort noch eine Spur von weißen Weihnachten vorzufinden.
Als es dämmerte, verließ sie die Autobahn und hatte noch Stunden Zeit. Sie stellte ihren Twingo in einem der privaten Parkhäuser in Flughafennähe ab, in deren Preis der Transfer zum Airport inbegriffen war. Drei Stunden vor Abflug war sie am Terminal und hatte Glück, ihre Reisetasche gleich aufgeben zu dürfen.
In der kurzen Warteschlange, die um diese Zeit schon bei der South African Airways entstanden war, reihte sich hinter ihr ein kleinwüchsiger Afrikaner ein, dessen Gesicht von einem schwarzen Bartflaum eingerahmt wurde. Er hatte sich eine rot-gelb-grüne Wollmütze tief über den Kopf gezogen und trug einen pelzbesetzten Ledermantel, der eher nach Lappland als zum Kapland passte. Seine Zähne glänzten weiß, als er sie anlachte und sie bat, für zwei Minuten auf seinen Koffer aufzupassen, da er noch telefonieren müsse. Verlegen hatte sie zugestimmt, obwohl ihr nicht ganz wohl bei dem Gedanken war, jetzt mit dem Koffer eines wildfremden Afrikaners auf dem Frankfurter Flughafen zu stehen.
Wie magisch angezogen starrten ihre Augen auf das Schild ›Don’t leave your luggage unattended!‹, als zusätzlich auch die weibliche Stimme vom Band davor warnte, Gepäckstücke
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