Bombenstimmung: Tannenbergs sechster Fall
Marcel Proust übrigens sein berühmtes Meisterwerk ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ – oder wie es im Original heißt ›A la recherche du temps perdu‹ – geschrieben.«
Er stieß kopfschüttelnd einen Schwall Luft durch die Nase. »Also wirklich, ein Deutschlehrer, der das nicht weiß. Na, solch ein Mensch dürfte wohl leider seinen Beruf total verfehlt haben. Ich sag dazu nur eins: PISA lässt schön grüßen. Der 1871 geborene Marcel Proust gilt übrigens neben James Joyce und Franz Kafka als Begründer der literarischen Moderne.«
Alter Klugscheißer – typisch Lehrer!, hatte der Starmoderator schon zu Beginn des kleinen Fachvortrags bei sich gedacht. Aber er hatte Heiner absichtlich nicht unterbrochen, musste er doch unter allen Umständen Zeit gewinnen. Schließlich hatte der Erpresser gefordert, dass die Unterhaltungssendung ohne weitere Werbeunterbrechung bis 23 Uhr weiterlaufen müsse. Er spürte den kalten Schweiß in seinem Nacken. Damit niemand sehen konnte, wie sehr seine rechte Hand zitterte, umschloss er das Mikrofon noch ein wenig fester.
Natürlich behielt Marco Kern diese abschätzigen und angstgetränkten Gedanken für sich. Ich darf jetzt nicht versagen. Ich muss meine Rolle unter allen Umständen weiterspielen, feuerte er sich selbst an.
»Respekt, mein lieber Herr Tannenberg«, lobte er scheinheilig, »bei solchen fachkompetenten Lehrern wie Ihnen müssen wir uns wohl keine ernsthaften Gedanken um die Zukunft unserer Kinder machen.« Er wandte sich zum Publikum. »Nicht wahr, meine verehrten Damen und Herren? Das sehen Sie doch genauso, oder?«
Stürmische Ovationen. Mehrere Kameras nahmen die begeistert applaudierenden Zuschauer ins Visier.
Während die Regie diese Bilder sowohl auf die Großleinwand in der Halle als auch zu Hause auf die Mattscheiben brachte, wurde Marco immer deprimierter.
Und jetzt ist es erst 21 Uhr 19, pochte es unter seiner Schädeldecke. Noch über eineinhalb Stunden. Aber auch nur, wenn alles gut geht. In einer knappen Dreiviertelstunde läuft ja schon dieses schreckliche Ultimatum ab. Wo soll Gero denn bis dahin so viel Geld herkriegen?
Die Führungskamera fing nun abermals die Familien in der Sofaecke ein.
»Marco, was ist denn mit dir?«, hörte der von Panikattacken heimgesuchte Quizmaster plötzlich die Stimme der Regieassistentin neben sich. Die junge Frau zupfte ihn am Ärmel seines Sakkos. Sie war über ihren Kopfhörer von Gero Lottner instruiert worden, sofort nach dem Jungmoderator zu sehen und war deshalb umgehend zu ihm geeilt.
Kern brummte zunächst nur kurz fragend auf. Erst als die Regieassistentin erneut seinen Vornamen zischte, reagierte er: »Hmh? Was?«
»Marco, du darfst jetzt nicht schlappmachen. Es steht zu viel auf dem Spiel.«
Ein Ruck ging durch den nach vorne gebeugten Körper des Showmasters. Er richtete sich auf, räusperte sich, schluckte hart. »Natürlich. Entschuldige.«
Sie taxierte ihn mit einem skeptischen Blick. »Bist du wirklich wieder fit, Marco?«
»Ja, doch«, versicherte er gedehnt.
»Gut. Denk dran: Gleich ist der Auftritt dieser Musicaltruppe. Danach hast du wieder ein paar Minuten Pause.« Sie hob die Stimme und verlieh ihr dadurch Schärfe: »Aber zuerst bist du noch mal dran. Klar?«
»Klar.«
»O.K. Also: In 10 Sekunden bist du wieder drauf.«
Marco Kern nickte. Mit einem tiefen Zug schöpfte er Atemluft, die er umgehend wieder mit einem kräftigen Stoß in die Freiheit entließ. Er rückte seinen Schlips zurecht.
Das Rotlicht flammte auf. Per Handmikrofon wandte er sich an Heiner: »Da sieht man mal, wozu ein Germanistikstudium doch gut sein kann«, bemerkte er lächelnd. »Aber nun zur zweiten Frage. Sind Sie alle bereit?«
Er wartete, bis alle drei Tannenbergs mit einem Nicken ihre Bereitschaft bekundet hatten. Dann gab er das obligatorische Handzeichen an die Regie. Ein dumpfer Gong ertönte und zeitgleich erschien das nächste Themengebiet auf der Leinwand.
»Wow – Allgemeines«, rief der Starmoderator geradezu verzückt aus. »Na, was halten Sie denn davon?«
»Mal abwarten«, erwiderte Jacob, »wie die Fragen aussehen.« Man sah ihm sehr deutlich die enorme Anspannung an, unter der er litt.
Voilà, da ist sie auch schon – Ihre neue Frage:
Was bezeichnet man als Myrmekologie?
A) Die Überlieferung von Sagen
B) Die Ameisenkunde
C) Die Wissenschaft von den Muskeln
D) Die Pilzkunde.
»Myr-me-ko-lo-gie«, zerlegte Marco Kern das Fremdwort in dessen einzelne
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