Bone 01 - Die Kuppel
keine Gewalt über das Floß mehr. Nackte Panik überwältigte ihn. Warum war er nicht selbst gesprungen? Warum sollte er als Letzter hier zurückbleiben, wo die anderen ihm nicht einmal helfen konnten?
»Es ist besser, sie erst zu ertränken«, sagte eine »Stimme« unter ihm. »Zieht ihn hinunter, damit sich seine Lungen mit Wasser füllen.«
»Nur noch ein Knoten«, sagte ein anderes Wesen.
»Stolperzunge!«
Die Stimmen klangen begeistert. »Er löst sich! Ich habe ihn gleich!«
Etwas stieß gegen Stolperzunges Kopf. Dann sah er, dass es das stumpfe Ende seines Speers war, und er griff verzweifelt nach diesem letzten Halt. Indrani und Steingesicht zogen das Floß mit aller Kraft ans Ufer. Die Wesen waren vielleicht von dieser plötzlichen Bewegung überrascht und reagierten sehr langsam. Stolperzunge schüttelte ihre Arme ab und brachte seine Beine und den Körper an Land, während sich eine Hand noch am Floß festhielt. Links und rechts von ihm wuchteten sich andere Gestalten aus dem Wasser.
»Überlasst sie mir!«, rief Steingesicht und rannte los. »Sie gehören mir!«
Aber die Bestien waren noch nicht mit Stolperzunge fertig. Ein Wesen mit blassem, schlankem Körper warf sich aus dem Feuchtpfad und bohrte seine nadelförmigen Zähne in den Bizeps des jungen Mannes. Der Schmerz und das Gewicht des Wesens zerrten ihn zurück zum Wasser, wo sich weitere Gestalten erhoben und ihre Kiefer aufrissen.
Indrani schrie vor Wut. Sie hatte immer noch den Panzerrückenspeer in den Händen. Sie rammte ihn tief in die Brust des Wesens, das an Stolperzunges Arm hing, und obwohl es nicht losließ, schafften es die beiden Menschen, es gemeinsam an Land zu wuchten.
Der Jäger spürte, wie sich der Griff um seinen Arm lockerte, und rollte sich weg. Er hielt sich die Wunde und hätte vor Schmerz und Angst beinahe das Bewusstsein verloren.
»Ich kann nicht mehr atmen«, sagte eine »Stimme«. »Ich sterbe. Ich kann nicht atmen!«
Stolperzunges Arm blutete heftig. »Bring es zum Schweigen«, sagte er. »Töte es!«
Doch dann hörte er ein Platschen, und als er sich aufsetzte, war nichts mehr vom Wesen zu sehen.
»Was …?« Zum ersten Mal seit dem Fund des Sprechers war er sprachlos.
»Es hatte Angst«, sagte Indrani.
»Angst?« Er konnte es nicht fassen. Er blickte sich um. Steingesicht stand keuchend fünfzig Schritte entfernt am Ufer. Er war mit Kratz-und Bisswunden übersät, aber keinem seiner Feinde war es gelungen, an Land zu kriechen. Stolperzunge wandte sich wieder an Indrani. »Aber was werden wir jetzt essen? Es hätte uns am Leben erhalten können.«
Indrani schüttelte den Kopf und zeigte nach oben. »Siehst du nicht, dass sie mich beobachten? Jede schreckliche Tat, die ich hier unten begehe, macht es unwahrscheinlicher, dass sie mich wieder aufnehmen. Und… und diese Bestie ist kein bisschen anders als du, Stolperzunge. Sie ist ein intelligentes, leidendes Wesen. Ich könnte es niemals töten, ich …«
»Du hast es getötet!«, schrie er.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Steingesicht und kam zu ihnen zurück.
Stolperzunge hörte nicht auf ihn. »Du hast mit meinem Speer seine Brust durchbohrt. In diesem Augenblick wird es von seinen eigenen Artgenossen gegessen!«
Dann weinte sie. Tiefe Schluchzer, die an seinem Herzen rissen. Sie wich nicht zurück, als er seine blutenden Arme um sie schlang, aber sie erwiderte die Umarmung auch nicht. Stattdessen tränkte sie seine Schulter mit Tränen.
»So schlimm ist es gar nicht«, sagte Steingesicht und klopfte ihr von hinten auf den Rücken. Stolperzunge widersprach ihm nicht, obwohl ihm klar war, dass sie alle in ein paar Tagen tot sein würden.
»Wir haben nicht sämtliches Fleisch verloren«, fuhr Steingesicht fort. Seine Stimme war überraschend sanft, und Stolperzunge erinnerte sich, wie vorsichtig und fürsorglich er immer mit seinem Sohn Kleinmesser umgegangen war. »Ich habe immer noch eine Rolle aus Krallenleutefleisch im Beutel an meinem Werkzeuggürtel. Und wir wollten unterwegs doch sowieso ein bisschen jagen, was? Welchen Sinn hatte es überhaupt, mehr mitzunehmen, als wir tragen können? Jetzt ziehen wir los und jagen frisches Fleisch – Fleisch, dessen Geschmack seit den Tagen des Reisenden kein Mensch mehr gekostet hat!«
Indrani zog sich von den beiden Männern zurück. »Ich will kein Wesen töten. Ich will nichts davon essen.« Ihr Schluchzen verstärkte sich. »Es ist falsch. Ich kann es nicht mehr tun!«
Stolperzunge wusste nicht,
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