Bone 01 - Die Kuppel
was er sagen sollte. Er erinnerte sich an die Worte seiner Mutter, wenn er sich als Kind geweigert hatte, unangenehm schmeckendes Fleisch zu essen. Er gab den Tadel an Indrani weiter: »Wenn du kein Fleisch isst, tötest du dich selbst«, sagte er. »Du schwächst den Stamm.«
»Ich habe keinen Stamm«, sagte sie. »Jetzt werden sie mich nie mehr aufnehmen.«
»Wir sind dein Stamm, Steingesicht und ich!«
»Ihr seid nur Wilde.« Der Sprecher hatte keine bessere Entsprechung für diesen Begriff gefunden, der ihn zutiefst schmerzte.
»Du hast genauso wie wir Wilde Fleisch gegessen«, sagte er. »Und wir mussten mehr jagen, damit du nicht hungertest. Diese Bestien sind durch deine Hand gestorben, selbst wenn du zu feige gewesen wärst, selbst den Speer zu heben!«
Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. »Du hast recht. Für mich ist es jetzt sowieso zu spät.« Sie atmete zitternd ein. »Morgen werde ich mit euch jagen!«
Später wagte Stolperzunge es, ein Feuer zu entzünden. Er spürte, dass Indrani das Bedürfnis danach hatte, und ihm ging es genauso. Er röstete alles Krallenleutefleisch, das Steingesicht hatte, weil er keinen Sinn darin sah, etwas für den Morgen aufzuheben.
An diesem Abend biss Indrani zum ersten Mal in ihr Essen, als würde es ihr wirklich schmecken. Sie aß mit Genuss und bat um mehr, obwohl sie bereits so viel bekommen hatte, dass Steingesicht verstummt war. Aber es war nichts mehr da. Sie zuckte mit den Schultern und legte sich hin. Der Feuerschein tanzte über die vollkommenen Züge ihres Gesichts, während Steingesichts erste Schnarcher durch die Nacht tönten. Stolperzunge beobachtete sie und dachte, dass sie viel zu schön war, um wirklich sein zu können.
»Bist du ganz sicher ein Mensch?«, fragte Stolperzunge. Er hoffte, dass sie die Augen öffnete und ihn ansah. Gleichzeitig wünschte er sich, sie würde sie geschlossen halten, damit er sie weiter betrachten konnte, ohne dass sie wütend wurde.
Ihre Augen blieben geschlossen.
»Ich bin ein Mensch«, murmelte sie. »Zumindest genauso wie du.«
»Wie meinst du das?«, fragte er verdutzt.
Sie hob den Kopf. »Von euch Männern hat keiner Haare im Gesicht. Ihr ernährt euch von Fleisch, das größtenteils nicht von Menschen stammt. Eure Frauen sterben niemals im Kindbett. Ihr werdet selten krank. Und ganz plötzlich soll ich diejenige sein, die vielleicht kein Mensch ist?«
»Nun ja«, sagte er, weil ihre seltsamen Worte ihn verwirrten. »Ich habe nur gefragt, weil… weil du gestern etwas über meine Vorfahren gesagt hast. Als wären sie anders als deine.«
»Das willst du eigentlich gar nicht wissen.«
»Natürlich will ich es wissen.« Wandbrecher würde es wissen wollen, aber er würde es niemals erfahren. Dieser Gedanke gefiel ihm.
Sie nickte langsam. »Ich bin mir nicht ganz sicher, Stolperzunge. Aber du bist wirklich anders als deine Vorfahren.«
So etwas zu sagen war grausam. »Nein!«
»Doch. Sogar ganz anders. Weißt du, sie waren Feiglinge. Sie waren Diebe und Deserteure .« Schon wieder dieses Wort, das klang, als gäbe es nichts Schlimmeres auf der Welt. »Sie haben meinen Leuten alles gestohlen und uns dem sicheren Tod überlassen. Sie haben diese gottverlassene Welt und alles andere verdient, was seitdem mit ihnen geschehen ist. Aber nicht du, Stolperzunge. Du bist …«
Stolperzunge spürte, wie sein Gesicht glühte. Ihm wurde schwindlig. Sie hatte es bestimmt nicht so gemeint. Es konnte gar nicht sein. Schlecht über die Vorfahren zu reden war wie … wie Fleisch zu verschwenden, wie Mord. Welche Heuchelei! Er und Indrani waren es gewesen, die aus ihrem Stamm desertiert waren. Sie waren die Diebe, weil sie ihr Fleisch von denen stahlen, die es nötig hatten. Stolperzunge wandte sich ab, damit keiner seiner Vorväter durch seine Augen blickte und ihn zwang, sie für ihre Worte zu bestrafen. Vielleicht entschuldigte sie sich später, aber er hörte nicht mehr zu. Er wartete, bis sie eingeschlafen war. Dann kniete er sich hin und bat um Vergebung für sie, bis auch ihn der Schlaf übermannte.
DER ZORN EINES VORFAHREN
In dieser Nacht sandten die Vorfahren Stolperzunge viele böse Träume. Er war ein Verbrecher, teilten sie ihm mit, weil er sein Fleisch vom Stamm gestohlen hatte, um mit einer Frau davonzulaufen, die ihn verachtete.
»Du bist nur ein Wilder, ein Vergewaltiger!«
Er versuchte ihre Stimmen abzuwehren, aber auch Mutter war unter ihnen – und sein Vater, an den er sich kaum
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