Bone 02 - Das Ende des Himmels

Indrani nahm Flammenhaar in den Arm, während Stolperzunge nachschaute, ob die alte Frau vielleicht einfach nur aufgewacht war. Aber nein. Er legte ein Ohr auf ihre Brust und bestätigte, dass ihr launisches Herz endlich den Kampf aufgegeben hatte und ihr Geist davongeflogen war, um sich zu ihren Vorfahren zu gesellen.
    Der Jäger schüttelte den Kopf. »Es ist den Menschen nicht bestimmt, so lange zu leben. Aber du warst für mich da, als ich dich brauchte, Jagadamba. Wir werden dein Fleisch ehren.«
    »So etwas werden wir nicht tun«, sagte Indrani. »Du weißt, dass sie es nicht gewollt hätte, und hier gibt es noch genügend andere.«
    »Hätten sie es gewollt?«, fragte er.
    »Du hast sie nicht gekannt!«
    »Umso mehr ein Grund …«
    »Ich habe Nein gesagt, Stolperzunge! Schluss jetzt! Wir müssen etwas essen, das akzeptiere ich. Aber du befindest dich hier in meinem Zuhause, nicht auf der Oberfläche. Ansonsten schau dich um! Da ist unser Seil! Viele der ge storbenen Religiösen tragen immer noch ihre Gewänder aus Seide . Wir können sie zusammenknüpfen. Verzieh nicht das Gesicht! Ja, der Stoff ist leicht, aber er ist stärker als alles, was es auf der Oberfläche gibt. Was wollen wir damit tun?«
    »Ich werde es dir zeigen«, sagte er nur, obwohl er wusste und es sogar genoss, dass er sie damit ärgerte. Aber sie hatten viel Arbeit vor sich, und Indrani war mit dem Baby beschäftigt. Also machte er sich allein ans Werk.
    Zuerst holte er sich mehrere Portionen Fleisch von einem Freiwilligen in der Nähe, um sie über dem Feuer zu räuchern. Später hatten sie vielleicht keine Gelegenheit, es zu garen, und obwohl sie eben erst gegessen hatten, verlangte sein Magen bereits nach mehr.
    Arme Jagadamba , dachte er. In seinem ganzen Leben war er noch keiner so scheußlichen Person begegnet, aber ihm war klar, dass sie ihm fehlen würde. Er überlegte, ob er ihr die linke Hand abschneiden sollte, wie sie es von ihm verlangt hatte. Aber er wusste, dass die Treppenschächte ohnehin blockiert waren. Schade.
    Er suchte genügend von dem Stoff zusammen, den Indrani als »Seide« bezeichnet hatte. Er brauchte ein paar Versuche, um ihn von der anderen Art unterscheiden zu können. Auf der Oberfläche war er mit abgeschabten und behandelten Bestienhäuten aufgewachsen, die sie als Kleidung benutzten. Diese Seidenhäute waren jedoch ganz erstaunlich. Geschmeidig und leicht und dennoch äußerst reißfest.
    »Würdest du es mir jetzt einfach sagen?«, fragte Indrani, als er schließlich genügend Stoff gesammelt hatte.
    »Ich würde es dir lieber zeigen«, erwiderte er.
    Er löschte das Feuer und zerstreute die Asche. Dann verbarg er Jagadambas Leiche in einer Nische und hoffte, dass die Elite sie dort nicht fand und identifizierte. Schließlich führte er Indrani im Licht des Sprechers zu einem Bereich, wo der Boden stark zerfressen war und an mehreren Stellen Schleim tropfte.
    »Als ich von unten heraufkam«, erklärte er, »habe ich gesehen, dass es hier Zwischenstockwerke gibt. Etwa alle zwei Treppenabsätze kam eine Tür, und wir sind insgesamt sechzig Absätze hinaufgestiegen.«
    »Ja, das sich die Lageretagen. Aber ich habe gehört, dass dort ein noch größeres Chaos herrscht als hier.«
    »Dann schau dir das an!« Stolperzunge hatte gefunden, wonach er gesucht hatte – einen breiten, träge dahinfließenden Schleimstrom, der sich am anderen Ende eines langen Korridors in den Boden fraß. Wahrscheinlich floss er hier schon seit mehreren Tausend Tagen, denn er hatte ein Loch geschaffen, das groß genug für eine Sphäre war. Von unten wehte ein warmer Wind herauf.
    »Das ist nicht dein Ernst!«, sagte Indrani.
    »Siehst du den abgestorbenen Baum vor der Wand dort drüben? Wenn wir uns daran abseilen, können wir das Seil nachholen, sobald wir unten sind.«
    »Und das können wir in jeder Etage machen? Bist du dir sicher?«
    »Der Schleim ist überall«, sagte er.
    Sie lächelte und war offensichtlich stolz auf ihn. »Gut. Ich gehe zuerst.« Sie hob einen Finger, als er losgehen wollte. »Ich werde zuerst gehen, Stolperzunge! Vergiss nicht, dass ich leichter bin als du. Du musst mich hinunterlassen. Und ich muss mich um Flammenhaar kümmern.«
    Stolperzunge erhielt keine Gelegenheit zum Protest. Ein lautes Pling kam von der Metalldecke des Korridors. Dann hörte er es noch einmal, und etwas sauste an seinem Ohr vorbei, wie ein summendes Insekt von der Oberfläche.
    »Bei den Göttern!«, zischte Indrani.