Bonita Avenue (German Edition)
essen war. Er befürchtete, ich hätte irgendwas vor. Ich habe ihm lieber nicht gesagt, dass ich schon mit Wilbert gesprochen hatte.»
«Wie bist du eigentlich an seine Nummer rangekommen?» Misstrauen schlich sich erneut in seine Stimme.
«Ganz einfach, sie war im Telefonspeicher meiner Eltern.»
Auch das hatte ich Siem lieber nicht gesagt. Ich hatte einen Vater, der wie ein Kriegspräsident seinen Sohn vor Gericht geschleift hatte: Seitdem war für Nuancierungen bei uns kein Platz mehr – wenn du nicht für uns bist, bist du gegen uns. Seit 1990 wurde im Bauernhaus nicht einmal mehr über Wilbert gesprochen. Das schlug man sich besser aus dem Kopf. Ganz zu schweigen davon, dass man ihn anrief. Oder sich mit ihm verabredete .
«Hast du ihm denn schon abgesagt?»
«Noch nicht.»
An dem Tag, als wir vor dem Waldbrand flohen, fragte Aaron mich nachmittags, was ich davon hielte, wenn er nicht wieder in die Vluchtestraat zurückkehren und ich mein Wohnheimzimmer im De Heurne kündigen würde, «wir verschiffen den ganzen Krempel», sagte er, «wir wandern einfach aus. Kommen vorläufig nicht zurück. Verschiffen? Ach was, wir lassen alles stehen und liegen. Was meinst du?» Und obwohl ich vorher nie an Zusammenziehen gedacht hatte und es außerdem den Schlussfolgerungen widersprach, die ich in den Wochen zuvor gezogen hatte, imponierte mir seine Dreistigkeit: Wir würden es einfach machen! Je länger wir darüber philosophierten, umso überzeugter wurden wir von dem Plan, nach Kalifornien zu ziehen, und zwar zusammen – bestürzend genug, dachten wir bereits nach sechs Tagen Ferien, nach sechs Tagen fernab der durchgedrehten Stadt Enschede, nur sechs Tage nach der schwersten Beziehungskrise, die wir je gehabt hatten, ans Zusammenziehen und phantasierten aufgeregt über einen Neustart in den Staaten. Nach so einer Krise, sagten wir uns gegenseitig, reiche kein Flickwerk mehr, und als wir an jenem Nachmittag von unserem Hügel aus den Waldbrand beobachteten, fragte ich mich im Stillen, ob der stechende Geruch von Millionen verkokelter Nadeln unsere wirren Köpfe freiätzte oder im Gegenteil vernebelte.
Auf dem von Aaron sah ich einen Rußstreifen. «Das wird schon wieder», sagte er. Ich drehte mich um und schaute zu dem kleinen Hafen in der Tiefe, wo sechs, sieben Boote vor Anker lagen, unser blau-rosa Pfeil mit Abstand das größte. «Wir können immer noch mit Volldampf abfahren», sagte ich, und lächelnd begaben wir uns in die Kühle des Hauses, das unter einigen besonders brennbaren Pinienbäumen errichtet worden war. Während Aaron Ziegenfleisch in einem bleischweren Schmortopf aufsetzte, den er aus einem der Küchenschränke gehoben hatte, spülte ich unter der Dusche den Geruch von verbrannter Rinde aus den Haaren und stellte mir zum ersten Mal in meinem Leben vor, wie es wäre, für immer bei ihm zu bleiben, mit ihm eine Familie zu gründen – konnte ich mir das überhaupt vorstellen? Wie es wäre, wenn wir es in Zukunft ohne täten? Ich malte mir aus, dass ich jetzt gleich mit einem Handtuch um meine nassen Haare in die Küche ging und zu ihm sagte: «Schatz, ich liebe dich, was hältst du davon, wenn wir die blöden Kondome einfach weglassen?»
Die Tür meines Büros schwang auf, und an dem ungeduldigen Quietschen der Scharniere konnte ich erkennen, wer da im Türrahmen stand. «Joy – fünf Minuten?» Rustys Lächeln kitzelte zwischen meinen Schulterblättern, ich klickte Aarons Website weg, sah aber weiterhin auf meinen Bildschirm. Der Tag neigte sich dem Ende zu, ich wollte beizeiten nach Hause. Als er begann, von fünf rückwärts zu zählen, drehte ich mich um. Auf die Türklinke von Zimmer 203 gestützt (wir hatten die Hotelzimmernummern aus rotem Gusseisen nie abgeschraubt), beugte sich Rustys Oberkörper in mein Büro. «Hast du geweint?», fragte er.
«Bei meiner Geburt. Was gibt’s?»
«Zwei Dinge.» Er ging zu dem kleinen Besprechungstisch, zog einen der schweren Stühle in die Mitte des Zimmers und setzte sich. Wie ich schlug er sein linkes Bein über das rechte, überlegte es sich dann aber anders und pflanzte seine Westernstiefel einen Meter voneinander entfernt auf den Teppich. «Erstens: Dieses Interview machst besser du.»
«Aha?» Ich nahm meine Haare zusammen, wand sie zu einem Knoten und zog das Gummiband darum. «Du meinst, wenn ich dazu Lust habe.»
«Wenn du dazu Lust hast, meine ich. Du hast es jedenfalls verdient. Ich würde es gern selbst machen, aber ich
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