Bonita Avenue (German Edition)
Lampenlicht glänzten. Sie sahen einander an. Der Mann, der auf eine erschreckende, aggressive Weise nicht Sigerius war, lächelte höflich. Ein Auto wich hupend aus, hinter dem BMW schaltete ein Kleinbus die Blinker an.
Tineke tastete nach dem Griff der Beifahrertür. «Du weißt es nicht?», sagte sie. «Du weißt es wirklich nicht, was?» Sie lachte gequält, ihr Gesicht eine dürre Grimasse des Unglaubens. «Siem ist tot.» Um den Verkehrslärm zu übertönen, schrie sie. «Schon acht Jahre tot. Wir haben ihn Anfang 2001 begraben. Oder versuchst du, mir weh zu tun?»
«Nein», sagte er.
Dann stieg sie ein.
2
Laut seinem Curriculum Vitae hat er Ahnung vom Zufall. In seiner Berkeley-Zeit und später in Boston gab er Proseminare über Wahrscheinlichkeitsrechnung und stochastische Optimierung für Erstsemesterstudenten der Mathematik und der Physik. Er wurde dafür bezahlt, dass er Kurse voller verklemmter Zahlenfüchse die mathematische Ordnung hinter dem Chaos spüren ließ. Schachspieler waren es, ZX-Spectrum-Experten, Rubik’sche Würfelzauberer, von denen nicht einer in einem der Universitätsteams mitspielen wollte, nicht beim Basketball und auch nicht beim Baseball; sie waren nach Berkeley gekommen, um der Quantenphysik zu dienen, die digitale Revolution zu entfesseln. Ehe er die Jungs und das eine Mädchen, das sich dorthin verirrt hatte, mit zeitdiskreten stochastischen Prozessen, Wahrscheinlichkeitsräumen und dem Bayestheorem bombardierte, fragte er sie nach dem spektakulärsten Zufall, den sie bisher erlebt hatten. Was war das verrückteste Ereignis in Ihrem Leben? Von den erstaunlichsten Anekdoten machte er an der Tafel eine Wahrscheinlichkeitsberechnung. Um eine gute Atmosphäre zu schaffen.
Dass er es mit pfiffigen jungen Erwachsenen zu tun hatte, merkte er, als eines Tages hinten im Seminarraum einer seine Hand nach oben streckte und eine Geschichte von der Hochzeitsreise seiner Großeltern erzählte. Ein blasser, ernster Junge, der berichtete, dass seine Großeltern in den dreißiger Jahren eine Kreuzfahrt nach Südamerika gemacht hätten und seine Großmutter vor der chilenischen Küste ihren Ehering über Bord habe fallen lassen. Sechzig Jahre später, anlässlich ihrer diamantenen Hochzeit, habe das Ehepaar die gleiche Kreuzfahrt noch einmal gemacht, und die beiden hätten an der Reling gestanden, als ein Sportangler einen Tunfisch an Bord hievte. Der Großvater habe darauf gedrängt, dass der Fisch aufgeschnitten wird, und was glaubt ihr? (Obwohl es gut fünfzehn, fast zwanzig Jahre her ist, dass er diese Proseminare gab, hat er bei diesem «Was glaubt ihr?» und seiner Erinnerung an den todernsten Blick, den der Knirps durch den Raum schweifen ließ, augenblicklich den Geruch von Kreidestaub in der Nase. Vor seinem inneren Auge wölben sich die orangefarbenen Vorhänge, die er nach der Mittagspause halb vor die weit geöffneten Fenster zog. Der schwülwarme Seminarraum lag im neunten Stock der Evans Hall, dort dauerten die Sommer sechs, sieben Monate.)
Na? Kein Ring.
Als er die Geschichte neulich Aaron Bever erzählte, nickte der, stand auf, nahm einen Roman aus dem Regal und zeigte ihm, wo Nabokov denselben Scherz ein halbes Jahrhundert zuvor schon einmal gemacht hatte.
Zufall macht den größten Eindruck, wenn er als Henker erscheint, darüber waren er und seine Studenten sich einig. Als das leise Kichern verstummt war, erzählte derselbe durchscheinende junge Mann von einer ganz anderen Reise. Von seinem Bruder, der zusammen mit dessen Freundin eine Tour durch Europa machen wollte, in drei Monaten vom nördlichsten Punkt Skandinaviens nach Gibraltar. Sie flogen nach Kirkenes, eine kleine Stadt ganz oben in Norwegen, mieteten dort ein Auto und machten sich auf einer langen, ebenen, zweispurigen Straße nach Schweden auf. Während der stillen, schneeweißen Fahrt kommt ihnen genau ein Fahrzeug entgegen, ein schlingernder dänischer Scania-Lkw mit einem schweren Anhänger. In dem Moment, als die beiden an dem Lastzug vorbeifahren – oder eigentlich ein paar Sekunden vorher, oder vielleicht setzte der Zufall schon Minuten davor ein, nein, wahrscheinlich handelte es sich hier um Korrosion, die sich schon jahrelang durch Schrauben und Muttern gefressen hatte –, verliert die Zugmaschine den Anhänger. Die Deichsel löst sich. Die vereiste Deichsel, die senkrecht zur mitlenkenden Vorderachse des Hängers steht, dreht sich wie die Lanze eines Ritters beim Turnier in Richtung Mietwagen
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