Bonita Avenue (German Edition)
nichts davon. Das denkst du dir bloß aus.»
Er sah mich spöttisch an, zog sein T-Shirt aus der Hose und wischte damit den Sabber von seinem Mund. «Ja», sagte er, «ich lüge immer. Ich mach die Dinge für die Menschen schöner, so bin ich nun mal. Ich verschon dich ein bisschen, verstehst du. Sie glaubt mir nicht. Und das mit meinem Gesicht? Das mit der Ohrentzündung? Glaubst du mir das?» Er packte seine Gummiwange und zog daran. «Das Geschwätz über mein Ohr, das glaubst du, und das jetzt glaubst du nicht.» Er schüttelte mitleidig den Kopf. «Das hier», sagte er, «hat mir ein Kerl eingebrockt, dem ich als Dealer was angedreht habe. Stark verschnittenes Heroin, richtiges Scheißzeug. Dieser verdammte Bimbo. Der bezahlte immer zu spät, verstehst du. Ständig nichts als Ärger, also gab ich ihm irgendwelchen Mist. Da steht der Neger abends an meinem Auto und wartet auf mich. So was in die Richtung, verstehst du. Wollte sein Geld zurück. Fick dich ins Knie, sag ich zu ihm, da schlägt er – wham! – mit einem Zimmermannshammer meine Windschutzscheibe ein. Ich hechte also über die Motorhaube und packe den Kerl beim Kragen. Tja, da donnert das Arschloch mir den Hammer knallhart auf die Schläfe.»
Er tippte sich mit dem Finger an die rechte Schläfe. Da war tatsächlich ein roter Halbmond. Er sah schrecklich aus, auf einmal.
«Schläfenbein gebrochen. Als ich wieder aufwachte, lag ich in einem Krankenwagen.»
Ich wollte etwas sagen, doch Wilbert zischte: «Pssst.» Er lehnte sich zurück, ein Ausdruck des Vergnügens zeigte sich auf seinem Gesicht. «Na, Monate später gehe ich mit meinen Hunden am Strand spazieren, in Zandvoort, verstehst du, da sehe ich diesen Surinamer. Er geht den menschenleeren Strand entlang und isst Backfisch. Was mache ich also, ich schleiche mich von hinten an ihn ran. Schleiche mich von hinten an ihn ran, schnappe ihn plötzlich laut brüllend bei seinem Krauskopf und schleife ihn ins Meer. Er weiß nicht, wie ihm geschieht, der Kerl. Ich verpasse ihm ein paar Kopfstöße und drücke ihn immer wieder unter Wasser. Immer wieder. Bis er halb ersoffen ist, verstehst du.» Er schaut mich zufrieden an. « Das mache ich mit Leuten, die mich verarschen.»
Verstehst du, verstehst du – ich hatte genug davon, verstehst du. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht länger mit Verstehstdu in einem Zimmer sein. Ich stand auf, hätte einfach so gehen können, zack , raus auf den Overtoom. Stattdessen ging ich um ihn herum und stellte mich vor die hohen Fenster. Ich hörte, wie er sich auf seinem Sessel bewegte.
Auf der rechten Fensterbank sah ich zwei Bilderrahmen stehen; ich nahm den vorderen mit dem Schwarzweißfoto einer lachenden jungen Frau. Sie hatte dunkles Haar, das schilfbüschelartig aufgesteckt war, sie stand in einem Garten mit einem weißen Zaun. Das musste Wilberts Mutter sein. Ohne es zu bemerken, hatte ich zu weinen angefangen, geräuschlos, ruhig. In dem anderen Rahmen war, wie ich durch meine Tränen hindurch erkennen konnte, dieselbe Frau zu sehen. Auf diesem Foto war Margriet offenbar einige Jahre älter, sie saß auf einer karierten Couch in einem Achtziger-Jahre-Wohnzimmer, Kurzhaarschnitt, das kleine Gesicht ungewohnt mager. Neben ihr: Wilbert. Etwa elf Jahre alt, quadratische Schneidezähne über der Unterlippe, die Haare lang, fröhlich und ernst zugleich. Der Mann im Haus. So sah er aus, als seine Verräter in Amerika lebten. Ich musste es aushalten. Gönn ihm das .
Vielleicht hatte er meine Gedanken erraten, denn er sagte: «Es war an einem Donnerstag. Ich wusste, dass du jeden Montag- und Donnerstagabend auf dem Reiterhof arbeitest – du bist da immer hin. Das stockdunkle letzte Stück, keine Häuser, man fährt einen Kilometer durch Wald und Felder. Da würdest du an diesem Abend vorbeikommen. Garantiert.»
Gott, er hatte recht, nie hatte ich einen der Abende ausgelassen. Nie. Wenn ich krank war und nicht zur Schule konnte, sorgte ich dafür, dass ich rechtzeitig, bevor ich zum Reiterhof musste, wieder auf den Beinen war. Ich sattelte Pferde, ritt Neuzugänge ein, spritzte den Sand in der Manege nass. Als ich fünfzehn war, gab es für mich nichts Schöneres.
«Vor neun hin, nach elf zurück. Und dort wollte ich dich vom Fahrrad zerren. Bis zum Abend trieb ich mich in Almelo rum. In der Bibliothek, im V & D, in einem Restaurant in der Nähe von diesem verdammten Gericht. Da hab ich für hundert Gulden gegessen, Mann.» Er grinste und erzählte dann,
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