Bonita Avenue (German Edition)
Neffe des Boxers Pedro van Raamsdonk zu sein und so was in der Richtung, aber wo ist dann das ‹van› geblieben?» Er sah mich an, als hätte er etwas Urkomisches vom Stapel gelassen. «Wo ist denn dann das ‹van›, du Angeber? Du heißt doch Raamsdonk? Tja, das konnte er mir auch nicht erklären. Aber egal, ihm hab ich erzählt, wie man mich reingelegt hat. Man muss doch mal reden, man …»
«Wilbert», unterbrach ich ihn, schwindelig von seinen Hassbekundungen, «wenn du wüsstest, wie leid es mir getan hat, ich …»
«Einfach zuhören», sagte er. «Einfach mal die Klappe halten.»
Er wartete lange, bevor er weitersprach.
«Ich hab diesem Ronnie also erzählt, wie sehr ich dich gehasst habe. ‹Du willst es ihr heimzahlen›, sagte er, ‹du willst raus, um es deiner Stiefschwester heimzuzahlen.› Damit hatte er recht, ich fing an zu schwitzen und zu zittern bei dem Gedanken, so aufgeregt war ich. Er sagte, dass er in einem Wald bei Zwolle siebzehntausend Mäuse verbuddelt hat. Dass er jede Minute des Tages an das Geld denken muss und in seiner Not manchmal versucht, bis siebzehntausend zu zählen, so sehr muss er an das Geld denken, sagte er. Der Kerl war dumm . Er glaubte, er müsste hin zu diesem Wald, bevor er achtzehn wird, denn sonst wäre die Knete garantiert weg, verstehst du. ‹Wir hauen zusammen ab›, sagte er, ‹und ich weiß auch schon, wie.›»
Wilbert erzählte, dass der Hof, auf dem sie Ausgang hatten, von einem vier Meter hohen Metallzaun umgeben, also ohne Sprungstab unbezwingbar war, aber dass an diesem Zaun eine Art Bushaltehäuschen stand, damit man sich unterstellen konnte, wenn es regnete. Ronnie sollte erst auf seine Schultern steigen und ihn dann aufs Dach ziehen.
«Der Kerl hatte unglaubliche Arme, verstehst du. Du hättest mal sehen sollen, was der im Fitnessraum gestemmt hat. Er sagte, dass er mir tausend Mäuse abgibt, wenn wir zusammen zum Wald bei Zwolle gehen.»
«Warum wolltest du unbedingt abhauen?», fragte ich. «Zehn Monate, und hattest du nicht schon die Hälfte hinter dir? Das verstehe ich nicht – wirklich nicht.»
Er lachte lautlos. «Du hast keine Ahnung von Zeit. Du regst dich nie länger als eine Stunde auf. Du weißt nicht, was Wut ist. Eine Woche lang draufgehen vor Wut, einen Monat, drei Monate. Über so was hältst du besser mal dein Maul. Wochenlang bin ich immer erst am frühen Morgen eingeschlafen.» Er formte mit seiner Hand eine Pistole. «Draußen wurde es hell, und ich schob dir das hier in den Mund … Peng!»
Er und sein starker Freund traten an einem eiskalten Januarabend das Drahtglas eines WC-Fensters kaputt und standen drei Minuten später auf der anderen Seite des Zauns. Sie rannten den Berg en Dalseweg entlang und stiegen ohne Fahrkarte in den Zug nach Zwolle. Er hatte sich an der Schulter geschnitten, spürte aber nichts. Rache, verstehst du.
«Aber …»
Er sah mich durchdringend an.
Aber du warst doch nicht ganz unschuldig ? Du bist doch ein gefährlicher Irrer – verdammt noch mal, Mann, hast du Vivianne nicht belästigt? Hast du nicht einen Mann erschlagen? Diese Sätze drängelten sich hinter meinen Zähnen, aber ich schickte sie zurück. Während ich ihn anstarrte, reorganisierten sie sich zu etwas Bedrohlicherem, einem Gedanken mit mehr Tiefe. Wie sollte ich Wilbert erklären, was in mir vorgegangen war, als unser Vater sich vor langer Zeit auf der Toilette der Bastille wieder zu sammeln versuchte? Ich wusste es selbst nicht so recht. Wie hatte ich meine Gedanken im Kopf geordnet? In den fünf Minuten an dem bieder gedeckten Tisch wägte ich in Windeseile ab. Ich beschloss, ihn zu verraten. Mein Vater war wiedergekommen und hatte sich hingesetzt wie ein alter Mann. Ohne zu blinzeln, sagte ich: «Papa – du und Mama, ihr habt recht. Es stimmt. Wilbert belästigt mich.» Warum? Warum hatte ich das gesagt?
«Aber was?»
«Nichts», sagte ich. «Erzähl weiter.»
«Ronnie und ich also vom Bahnhof Zwolle aus raus aus der Stadt. Erst mitten in der Nacht waren wir in dem Wald, verstehst du. Und der Kerl musste stundenlang suchen. Stundenlang! Hinter jedem verdammten Baum. Ich wurde wahnsinnig, er wurde wahnsinnig. Uns war durch und durch kalt. Er schlägt mit bloßen Hände gegen die Bäume. ‹Ruhig, Mann, relax ›, sag ich zu ihm, ‹wir warten einfach, bis es hell wird.›»
Warum ? Hatte mich sein Treiben da im Badezimmer doch mehr schockiert, als ich zugeben wollte? Oder mischte sich in die Beunruhigung eine vage
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