Bonita Avenue (German Edition)
Mann reden, hörte sich ausweichende Antworten geben und bemerkte zu seinem Schrecken, dass er unaufmerksam wurde, regelrecht wegnickte. Oder waren gerade das die Momente, in denen er wach war? Er fragte sich noch manches mehr, etwa, wem Sjöwall & Wahlöö Bericht erstatteten und ob Sigerius die Abschrift des Protokolls morgen auf seinem Schreibtisch finden würde. Der Wichtigtuer hatte ihm beim Reinkommen Anonymität garantiert, es sei eine ganz normale Befragung, behauptete er, doch Geheimdienste verbargen ja meistens etwas.
«Wer nennt sich schon selbst Geheimdienst?», fragte er.
«Vielleicht sollten besser wir die Fragen stellen», sagte die Frau. Der Geheimagent erhob sich seufzend, trat dabei mit seinen italienischen Schuhen ein paar Pizzakartons platt. Fröstelnd schob er sich an den Bücherregalen entlang.
«Das ist noch gar nichts», sagte Aaron. «Heute Nacht wird es hier frieren.»
«Ziehst du um?», fragte der Mann und deutete mit seinem an ein Pissoir erinnernden Kinn auf die Bücherstapel im Zimmer. Nein, er zog nicht um, aber er hielt das einfach nicht mehr aus, die Tausende von Buchrücken, die ihn von den Regalbrettern herab anstarrten.
«Vielleicht», sagte er. Früher starrte er gern zurück, doch zurzeit machte ihn das depressiv, selbst jetzt, da sein breitschultriger Freund, der Rücken im Sakko ein Quadrat, händereibend davorstand, drauf und dran, wieder einmal auf die Pirsch zu gehen: auf den Zehen, in der Hocke, Fragen stellend, immer wieder neue Fragen. Ob er das alles gelesen habe? Was halte er von Simon Vestdijk? Habe er das gelesen? Wie hoch sei der Versicherungswert all dieser Bücher? Warum leihe er sie sich nicht einfach aus? Wie schaffe er es, dass sie nach Alphabet geordnet blieben? Was bringe es, Erstausgaben zu sammeln? Und Naipaul, sei der gut? Und zack, schon hielt der Vater seiner Freundin wieder einen der unzähligen Romane in die Höhe, die er nach seinem Utrechter Debakel in sein Nest geschleppt hatte, ein nie ganz auszulesender Bücherberg, der eine große Anziehungskraft auf Sigerius ausübte. Und warum finde er den und den da so gut? Und der, werde der nicht überschätzt? Müsse er den dann lesen? Was müsse er vor seinem Tod überhaupt lesen? – ein grenzenloses Interesse, bei dem Aaron sich anfangs gefragt hatte, ob es wohl echt war oder ob Sigerius ihn auf den Arm nahm, ihm mit dieser Münze das grenzenlose Interesse heimzahlte, das er selbst an den Tag legte.
Dass Sigerius es ernst meinte, zeigte sich daran, dass er wiedergekommen war. Offenbar vermisste er den Austausch. Er musste aber auch einiges nachholen, wirklich. Literatur war sein blinder Fleck, die einfachsten Dinge wusste er nicht. Der Mann, der sich umdrehte und ihn ansah, glaubte, Dostojewski sei ein Komponist. Aufgewachsen zwischen Matrosen und Bauarbeitern. Faulkner? Keine Ahnung. In den Reden, mit denen Sigerius das akademische Jahr eröffnete, kam es ihm auf ein Zitat mehr oder weniger nicht an, Bellow, Böll, Bordewijk, Borges, alle mit B wie bedeutend, aber dekorativ und zu nichts verpflichtend. Plötzlich hatte er Lust, das zu kommentieren, eine seltsame Bösartigkeit überkam ihn. «Hast du aber wenig gelesen», sagte er. «Eigentlich fast nichts.»
Er selbst hatte in den Wochen, Monaten, Jahren nach seinem Scheitern in Utrecht nie aufgehört zu lesen, aus Verbissenheit, aus Frustration, Hunderte von Romanen, sodass er sich, bevor er Sigerius kennenlernte, manchmal fragte: warum das Ganze überhaupt? Wann ist dein Drang, dir etwas zu beweisen, verraucht? Wann akzeptierst du deine Niederlage endlich? Bis dieser Mann in sein Leben trat. Es war Sigerius, der seiner Lesewut rückwirkend einen glasklaren Grund gegeben hatte. «Aaron», hatte er gesagt, «ich bin kein Intellektueller. Erteil mir Nachhilfe.» Diese bemerkenswerte Einsicht trieb ihm die Tränen in die Augen. Er stand von seinem Stuhl auf, ging einen Schritt auf Sigerius zu, bereit, ihn in die Arme zu schließen –
«… hast du was gefragt?», rief der Mann.
Aaron riss die Augen auf. Er hatte nichts gehört. War er eingeschlafen? Oder träumte er erst jetzt? Er sah den Mann an. «Sigerius und ich kommen sehr gut miteinander aus», murmelte er einfach drauflos, seine Stimme zitterte inakzeptabel, «manchmal ist es, als wäre ich sein Sohn.»
Die Frau notierte nichts, leider. Sie schloss den obersten Knopf ihrer Bluse. Diese beiden waren nicht zu ihm gekommen, um Sigerius zu überprüfen, er hatte sie geschickt. Sie waren
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