Bonita Avenue (German Edition)
auf Schönwetter machte oder ob es ganz einfach Schönwetter war. Sie gab sich übertrieben freundlich, erweckte den Eindruck, von der Schiebetür nichts zu wissen. Sie fragte mich, ob ich Weihnachten mit ihnen in Val-d’Isère feiern wolle. Dank der halben Sekunde Verzögerung in der Leitung konnte ich mir eine Ausrede einfallen lassen: Viel Arbeit zwischen Weihnachten und Neujahr, tut mir leid, Mama. Erst Tage später fing es an, mir wirklich leidzutun, denn seit ich beschlossen hatte, das Kind zu behalten, wuchs noch etwas anderes in mir, eine Idee, ein Plan, ein Gedanke, den ich hegte, als wäre ich mit Zwillingen schwanger; ich nahm Folsäure, um beides zu stärken.
Am nächsten Morgen fuhr ich gerädert durch die Provence. Es war gar nicht mal schlechtes Wetter, trotzdem fror ich. Eine bodenlose Betrübtheit ergriff Besitz von mir. Bei Chambéry, der Ausfahrt, die ich zwei Tage später würde nehmen müssen, wenn ich wieder nach Norden fahren wollte, um nach Val-d’Isère zu gelangen, sah ich einen hellen Lichtblitz. Ein winziges Loch in meiner Wahrnehmung, als stäche durch die Filmleinwand des Tages eine noch viel intensivere weiße Hitze. Ich schaute kurz aufs Armaturenbrett, auf meine Hände am dreispeichigen Sportlenkrad und wieder auf die Straße.
«Mist.»
Es war so weit. Darauf wartete ich schon seit Wochen, das war mir klar. Den letzten Anfall hatte ich noch vor der Feuerwerkskatastrophe gehabt, wirklich, ein kopfschmerzfreies halbes Jahr lag hinter mir, eine Pax Migraine, die ich, dreimal auf Holz klopfend und beschwörend, dem Chaos abgerungen hatte. Doch jetzt kriegte ich die Rechnung. Innerhalb weniger Minuten breitete sich der leuchtende Punkt aus zu einem faustgroßen, ruckenden Diamanten aus Licht – begieriger als sonst, schien es, als hätte es jemand eilig mit mir. Die Auraphase, so nannten Ärzte das. Ich kannte den Ablauf seit der weiterführenden Schule: In einer Viertelstunde wäre nur noch Feuerwerk zu sehen, alles würde zu tanzendem, brennendem Licht, über das bildschirmgroße Blickfeld. Nach einiger Zeit hätte der Diamant dann genug davon, und eine stille halbe Stunde würde folgen. Anschließend hämmerte mir der Kopfschmerz einen Nagel ins Schläfenbein.
Zu stark von Übelkeit geplagt und zu blind, um weiterfahren zu können, lenkte ich den Alfa auf den erstbesten Parkplatz, schaltete den Motor ab und legte den Kopf aufs Steuer. In meiner Tasche hatte ich nur Paracetamol, kein Imigran, das Medikament, das ich jetzt brauchte. Die Schachtel war bereits leer gewesen, bevor ich nach Kalifornien ging. Auf dem Boot gab es vielleicht noch Ibuprofen 600. Ich setzte die Sonnenbrille auf, doch das rasende Geflacker befand sich auf der Innenseite, ein Gedankenbrand. Ich nahm drei Paracetamol und konzentrierte mich mit aller Kraft auf Weihnachten in Val-d’Isère.
Das Baby würde alles wiedergutmachen . Ich hatte es Boudewijn nicht gesagt, einfach weil es ihn nichts anging – doch dieser Gedanke hatte mich letzten Endes von einer Abtreibung abgehalten. Abendelang hatte ich im Pueblo von der gemeinschaftlichen Couch aus Tannenzapfen in den offenen Kamin geworfen (die merkwürdige Sprödigkeit der Schuppen, das Knacken und Zischen, sobald die auflodernden Flammen kurzen Prozess damit machten), grübelnd, abwägend, in mich hineinfühlend, und während meine Taille verschwand und mein Bauch dick wurde, stand mir immer deutlicher vor Augen, was für einen Trumpf ich in den Händen hielt. Zum ersten Mal seit der Schiebetür ließ ich Gedanken an Korsika zu, versuchte, die Emotionen dieses Urlaubs wieder in mir wachzurufen. Hatten wir nicht bei vollem Verstand miteinander geschlafen? Auf dem Boot, auf dem Rückweg in Nancy. Wir hatten dieses Kind gewollt . Es war nicht zufällig gezeugt worden. Ich kannte Aaron gut genug, um zu wissen, dass er es anerkennen würde, sofort, er würde alles beiseiteschieben, um es aufzuziehen. Und es war verdammt noch mal unterwegs – unumkehrbar. Und würde diese Unumkehrbarkeit die andere Unumkehrbarkeit nicht vielleicht aufwiegen können? Ein Kind von mir und Aaron … War mir eigentlich bewusst, was ich da gerade tat? Ich lag auf einer Couch im Silicon Valley und machte Siem zum Großvater . Und nachdem das vollkommen bei mir gesackt war, wusste ich genau: Die Frucht in meinem Bauch würde stärker sein als das, was uns auseinandergetrieben hatte. Wir wurden Vater und Mutter und Großvater . Ich würde uns wieder zusammengebären.
Das Fegefeuer
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