Bonita Avenue (German Edition)
retten, «was studiert die junge Dame eigentlich, dass sie so viel über McKinsey weiß?»
Noch ehe Joni antworten konnte, kam Aaron ihr zuvor. «Sie hat einen Computer», sagte er, wieder mit dieser komischen, belegten Stimme, «und damit hat sie Zugang zum Internet. Und im Internet ist sie ganz allein auf die Website von McKinsey gesurft. So.»
Erneut herrschte Schweigen, ein paar Nuancen tiefer als beim letzten Mal. Bedauern erfüllte augenblicklich jeden Hohlraum in Aarons Körper; was ihm da rausgerutscht war, was ihm da schon zweimal rausgerutscht war, das war die verbale Variante des Zuschlagens, eines Verhaltens, das zivilisierte Menschen mit «eine lockere Hand haben» umschreiben, ein vollkommen barbarischer Mangel an Beherrschung. Bei der kleinsten Kleinigkeit schlug er wie ein Brutalo zu. Stol betrachtete ihn mit einem durchtriebenen, leicht amüsierten Blick. Knallblaue Augen, die die abblätternde Farbe in seinem Inneren noch weiter ausdörrten. Aaron wusste genau, was Stol sah; wenn jemand wusste, wie krankhaft eifersüchtig er war, dann war er es selbst. Es war eine Katastrophe mit ihm. Wie würde Stol erst aus der Wäsche schauen, wenn er ihm von der Nacht vor Jonis Vorstellungsgespräch für ein Praktikum bei Bain & Company erzählte, ungefähr ein Jahr zuvor? Nach stundenlangem Gegrübel war er hektisch aus dem Bett gekrochen und hatte den Kleiderstapel, den sie sich bereitgelegt hatte, mit ins Badezimmer genommen, um dort mit einem Mandarinenstück dem blauen Rock und der weißen Bluse subtile Flecken zu verpassen und an strategisch günstigen Stellen beginnende Laufmaschen in die Strumpfhose zu reißen. Er konnte nicht anders. Für ihn stand fest, dass sie ihren freischaffenden Fotografen fallenlassen würde, sobald sie ihren Fuß in so einen Turm aus Spiegelglas gesetzt hätte. Irgendwo auf der Welt stand ein Wolkenkratzer, der sie ihm wegnehmen würde, in London, New York, Tokio: Er würde sie an die Unternehmungsberatung verlieren.
Natürlich fragte er sich immer wieder, woher diese Angst kam. Anfangs meinte er, es mit einem heftigen Ausläufer der gewöhnlichen Eifersucht zu tun zu haben; die euphorischen ersten Monate seiner Beziehungen gingen immer einher mit der unverhältnismäßig großen Furcht, ein Rivale könnte seinem Glück ein Ende bereiten. Doch bei anderen Freundinnen war seine Paranoia nach drei Monaten verflogen, zusammen mit seiner Verliebtheit. In Jonis Fall verflog nichts. Klar, wer mit Joni Sigerius zusammen sein wollte, musste hart im Nehmen sein; sie war außergewöhnlich schön, nein, sie war unerträglich schön. Ob mit Absicht oder nicht, sie feuerte Betateilchen aufs Herzstück der männlichen Anständigkeit, die Fassade bröckelte, sobald sie auch nur in die Nähe kam, und aus den Spaltprodukten wurden aggressive Jäger, wie oft hatte er das nicht schon beobachten können? Sie ließ sich von einem Dozenten seiner Kunstakademie ein paarmal pro Jahr bodypainten, sie gewann zwei Auflagen der campusinternen Wahl zur Miss Wet-T-Shirt. Porträtfotografen sprachen sie auf der Straße an, um sogenannte «Kunstfotos» von ihr zu machen. Von wem stammten die SMS, die er nachts, wenn sie schlief, eingehen hörte? Die unbekannten Vornamen und Telefonnummern in ihrem Taschenkalender? In Diskotheken keuchten heisere Kerle in sein Ohr, dass seine Zeit abgelaufen sei. Jahrelang wurde sie jeden Morgen von jemandem geweckt, der in den Hörer stöhnte – wie sich später herausstellte, handelte es sich um den Dekan ihrer Fakultät. Wieso musste sie den Masseur, zu dem sie ging, nicht bezahlen? Alle paar Monate, wenn Enschede ihr zu klein wurde, fuhr sie mit einem schwulen Freund nach Amsterdam ins iT, eine Nacht abhotten in einem Hemdchen, durch das selbst Ray Charles hätte hindurchgucken können. Während er mit einer Apfeltasche zu Hause vor dem Fernseher saß. Wahnsinnig hätte er werden können. «Und, gab’s was Besonderes?», fragte er, wenn sie um sechs in der Früh nach Hause kam. «Nicht wirklich. Es dauerte nur ganz schön lange, bis wir drinnen waren.» «Ach, wieso das?» «Ich musste meinen BH abgeben.» «Wie bitte?» «Meinen BH. Abgeben.» «Was ist das denn für ein Unsinn?» «Frag das den Türsteher.» «Den Türsteher? Was ist denn das für ein Türsteher? Und dann?» «Dann hab ich meinen BH abgegeben.» Es war eine Katastrophe mit ihm – aber auch mit ihr.
Die Katastrophe lächelte Stol an. «Wenn ich etwas über McKinsey wissen will», sagte sie dem
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