Bonita Avenue (German Edition)
durch eine Laune des Schicksals hineingeraten war: Der ihr bescherte Großvater war Mitglied des obersten niederländischen Gerichts gewesen und in seiner Freizeit Biograph der Seehelden Maarten und Cornelis Tromp, ein Mann, der keine Kinder in die Welt setzte, sondern Professoren. Wie ihre Mutter, so hatte auch die beeindruckende Schar von Onkeln und Tanten, die Isabelle erwähnte, in diesem oder jenem Fach promoviert, kollektiv, wie es schien, lauter wichtige Leute auf wichtigen Posten an Universitäten, Gerichten, bei Menschenrechtsorganisationen, und waren sie das nicht, dann malten und bildhauerten die Star Busmans etwas, was es verdiente, ausgestellt zu werden. Die alte Eiche hatte sich über zwei Generationen derart verzweigt, dass die meisten Studentenverbindungen des Landes eine Cousine oder einen Cousin von Isabelle in ihren Reihen hatten, ein mächtiger Star-Busman-Clan, der mindestens zweimal im Jahr in der Villa von Isabelles Großeltern in Den Haag zusammenkam, um – so stellte Sigerius es sich vor – über den gesellschaftlichen Aufstieg zu berichten. So wie Isabelles Adoptivfamilie wusste dieses privilegierte Mädchen, das lächelnd seine Prüfungen bestand, sich sein Taschengeld als singende Kellnerin in einer Pianobar verdiente, eine Studienreise nach Prag (einschließlich eines Besuchs in Theresienstadt) organisierte und zudem Mitglied in drei Damenverbindungen war, genau, wie es sein Leben gestalten wollte.
Und Margriet? Woran dachte Margriet Wijn mit neunzehn? Noch nicht an Alkohol, jedenfalls noch nicht den ganzen Tag. Was im vernebelten Kopf seiner ersten Frau vorgegangen war, das wusste er nicht, es hatte jedoch garantiert nichts mit einer wie auch immer gearteten Zukunft zu tun gehabt. Hirngespinste, Kleinkram, Komplexe, ein emotionales Schlammloch, in dem die Chancen eines jeden Niederländers zur Zeit des Wiederaufbaus, ob arm oder reich, ob klug oder dumm, ob privilegiert oder nicht, mit einem schlürfenden Geräusch versunken wären.
Er war aufgestanden und zusammen mit dem Mond durch den Zug gewandert, erste Klasse, zweite Klasse, bis er Isabelle fand, die eine Zeitung las. Mit dem Zeigefinger auf den Lippen, so setzte er sich neben sie und küsste ihre wunderbare Sanftheit, bis sie in Drienerlo aussteigen mussten. «Ladies first» , sagte er galant und gab ihr knapp hundert Meter Vorsprung, bevor er ihr über den dunklen Campus folgte, die grüne Lederjacke und das mondbeschienene blaue Haar darüber fest im Blick. Sie schaute sich nicht um, als sie auf der Calslaan nach rechts abbog und er geradeaus zum Bauernhaus weiterging. Nie hätte er gedacht, dass der Höhepunkt bereits hinter ihnen lag.
Er geht vor Aaron her. Die Hochzeitsschuhe, die der junge Mann immer noch trägt, klackern auf den Schieferfliesen. Schon seit zwei Tagen hört er Aaron davon sprechen, dass er einen neuen Judoanzug kaufen will, und ebenso lange schiebt er seine generöse Geste auf die lange Bank. Warte du erst noch ein Weilchen . Solange er keinen Gegenbeweis hat, fällt es ihm schwer, herzlich zu sein. Es kostet ihn Mühe, nicht jedes Mal, wenn er den Kahlkopf mit den wässerigen blauen Augen sieht, zu denken: Wer bist du eigentlich? Mal angenommen, es stimmt, welche Rolle spielst du dann dabei? Ihm ist bewusst, dass sein Groll auf eine merkwürdige, vielleicht auch logische Art gespalten ist: Während er sich um Joni Sorgen macht, weckt Aaron bei ihm Aggressionen. Vorauseilender Groll, er weiß schon. Er zwingt sich dazu, sein Urteil aufzuschieben. Mal angenommen, mal angenommen, mal angenommen. Ein Beweis muss her. Gewissheit. Und dann: nachdenken. Er nimmt sich vor, gelassen zu bleiben, analytisch. Bloß keine unbedachten Reaktionen.
«Nett von dir, Siem», sagt der junge Mann, «aber ich kann mir auch selbst einen kaufen.»
«Stell dich nicht so an, Mensch.»
Seit die beiden hier sind, streift er heimatlos durch sein eigenes Haus, die unerwartete Einquartierung setzt ihm zu, Jonis Weinen über diesen verletzten Mann, Wilberts Anruf, der Brandgeruch, den die zerfetzte Stadt ausdünstet, all das dringt in seinen umgebauten Bauernhof. Der lange Arm des Schicksals hat daraus das Landhaus eines zweitklassigen Agatha-Christie-Romans gemacht. Dass sich alle ausgerechnet jetzt so auf die Pelle rücken müssen. Seiner Nachgiebigkeit wegen ist er nun gezwungen, das Telefon im Auge zu behalten, denn er fürchtet, Wilbert könnte sich wieder melden, und auch in diesem Augenblick verspürt er Unruhe, weil
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