Bonjour Tristesse
ich begriff, daß Unbekümmertheit das
einzige Gefühl war, das unser Leben beflügeln konnte; es war sinnlos, sich mit
irgendwelchen Argumenten verteidigen zu wollen.
»Schau«, sagte Anne, und ergriff über
den Tisch hinweg meine Hand. »Du wirst die Rolle eines ›Mädchens im Wald‹ gegen
die der braven Studentin enttäuschen — nur für einen Monat; das ist doch nicht
so schwer, oder doch?«
Sie blickte mich an, er blickte mich an
und lächelte. In diesem Licht gesehen, war die Sache einfach. Sanft zog ich
meine Hand zurück.
»Doch, es ist schwer.«
Ich sagte es so leise, daß sie mich
nicht hörten oder nicht hören wollten. Am nächsten Morgen saß ich vor einem
Satz von Bergson. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich ihn verstand: »Welche
Ungleichartigkeit man auch anfangs zwischen Wirkung undUrsache feststellen
könnte, und obwohl der Weg von einem Gesetz der Sittlichkeit bis zu einer
Bejahung im Grund der Dinge ein weiter ist, spürt man doch immer, daß man aus
dem Kontakt mit dem Schöpfungsprinzip der menschlichen Rasse die Kraft schöpft,
die Menschheit zu lieben.«
Ich sagte mir diesen Satz immer wieder
vor. Zuerst leise, um mich nicht aufzuregen, dann mit lauter Stimme. Ich stützte
meinen Kopf in beide Hände und sah ihn aufmerksam an. Und schließlich, nachdem
ich ihn viele Male gelesen hatte, verstand ich ihn und empfand dennoch das
gleiche Gefühl von Kälte und Unvermögen wie beim erstenmal. Ich konnte nicht
weiterlesen, ich blickte — immer noch aufmerksam und wohlwollend — auf die
folgenden Zeilen, und plötzlich brach etwas in mir los wie ein Sturm und warf
mich auf mein Bett. Ich dachte an Cyril, der in der goldenen Bucht auf mich
wartete, ich dachte an das Schaukeln des Bootes, an den Geschmack unserer
Küsse, und ich dachte an Anne. Und meine Gedanken waren so absurd, daß ich mich
mit klopfendem Herzen im Bett aufsetzte. ›Es ist dumm, es ist ungeheuerlich, so
etwas zu denken‹, sagte ich mir, ›ich bin nichts als ein verwöhntes Kind, ich
bin faul, und ich habe nicht das Recht, so zu denken!‹ Und gegen meinen Willen
überlegte ich weiter: ›Sie schadet uns, sie ist gefährlich, und man muß sie aus
unserem Leben vertreiben.‹ Ich dachte an dieses Mittagessen, das ich gerade mit
zusammengebissenen Zähnen überstanden hatte. Ich war aufgelöst und zerfressen
von Rachsucht, verachtete mich dafür und fühlte mich lächerlich... Ja, das war
es, was ich Anne vorwarf: Sie machte es mir unmöglich, mich selber zu lieben.
Die Natur hatte mich dazu geschaffen, glücklich, unbekümmert und liebenswürdig
zu sein, und durch ihre Schuld geriet ich nun in eine Welt der Vorwürfe, des
schlechten Gewissens, in der ich mich verlor, denn ich war zu unerfahren in der
Kunst der Selbstbetrachtung. Und was würde Anne mir noch bringen? Ich maß ihre
Kraft: sie hatte meinen Vater gewollt, sie hatte ihn gekriegt — nach und nach
würde sie aus uns den Ehemann und die Stieftochter von Anne Larsen machen. Das
hieß mit anderen Worten: gesittete, wohlerzogene und glückliche Wesen. Denn sie
würde uns glücklich machen; ich spürte genau, wie leicht wir in unserer
Labilität der Verlockung eines vorgeschriebenen, abgegrenzten,
verantwortungsfreien Lebens nachgeben würden. Ihre Wirkung war viel zu stark.
Schon begann mein Vater sich von mir zu lösen; dieses verlegene, abgewandte
Gesicht, das er beim Essen gehabt hatte, verfolgte mich, quälte mich. Ich
dachte an all unsere früheren gemeinsamen Streiche, an unser Lachen, wenn wir
im Morgengrauen mit dem Auto durch die weißen Straßen von Paris nach Hause
fuhren, und ich hatte Lust zu weinen. Das war nun alles zu Ende. Jetzt würde
ich von Anne in die Arbeit genommen, beeinflußt, umgemodelt, neu ausgerichtet
werden. Ich würde nicht einmal darunter leiden. Sie würde mit Intelligenz,
Ironie und Sanftheit auf mich einwirken. Ich war nicht in der Lage, ihr zu
widerstehen; in sechs Monaten würde ich nicht einmal mehr das Verlangen danach
haben.
Es mußte unter allen Umständen etwas
geschehen, ich mußte meinen Vater wiederfinden und unser früheres Leben. Wie
reizvoll erschienen mir plötzlich diese zwei fröhlichen, zusammenhanglosen
Jahre, die nun vorüber waren und die ich vor ein paar Tagen so schnell und
bereitwillig verleugnet hatte. Die Freiheit, zu denken, schlecht zu denken,
wenig zu denken, die Freiheit, mir mein Leben selber auszusuchen und zu
entscheiden, wie ich selbst sein wollte — ich kann nicht sagen: »ich selbst zu
sein«,
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