Bonjour Tristesse
denn ich war nichts als ein modellierbarer Teig —, aber die Freiheit,
eine bestimmte Teigform abzulehnen.
Ich weiß, daß man komplizierte Motive
für diese Veränderung finden und mir prachtvolle Komplexe unterschieben kann:
blutschänderische Liebe zu meinem Vater oder eine ungesunde Leidenschaft für
Anne. Aber ich kenne die wirklichen Ursachen: Es waren die Hitze, Bergson und
Cyril — oder zumindest Cyrils Abwesenheit. Ich dachte den ganzen Nachmittag
darüber nach und fiel aus einem unangenehmen Zustand in den anderen; aber das
einzige Ergebnis meiner Entdeckung blieb, daß wir Anne auf Gnade und Verderb
ausgeliefert waren. Ich war es nicht gewohnt, nachzudenken, es ging mir auf die
Nerven. Beim Essen öffnete ich wie am Morgen nicht den Mund. Mein Vater fühlte
sich verpflichtet, darüber einen Witz zu machen:
»Was ich an den jungen Leuten so liebe,
ist ihre Lebhaftigkeit, ihre Konversation...«
Ich sah ihn hart und eindringlich an.
Ja, er liebte junge Menschen! Und hatte ich je mit irgend jemandem besser reden
können als mit ihm? Wir hatten über alles gesprochen: über die Liebe, über den
Tod, über Musik. Und nun gab er mich preis und machte mich wehrlos. Ich blickte
ihn an und dachte: du liebst mich nicht mehr wie früher, du hast mich verraten.
Und ich versuchte, ihm das verständlich zu machen, ohne es auszusprechen. Ich
war am Rande der Verzweiflung. Er erwiderte meinen Blick und sah plötzlich
beunruhigt aus; vielleicht verstand er, daß dies kein Spiel mehr war und daß
unserer Freundschaft Gefahr drohte. Ich sah, daß er mit sich kämpfte und nicht
wußte, wie er sich verhalten sollte. Anne wandte sich zu mir:
»Du schaust schlecht aus, ich mache mir
Vorwürfe, daß ich dich zum Arbeiten zwinge.«
Ich antwortete nicht, ich verabscheute
mich zu sehr wegen dieses Dramas, das ich aufgezogen hatte und nun nicht mehr
aufhalten konnte. Wir waren fertig mit dem Essen. Draußen in dem rechteckigen Lichtschein,
der durch das Speisezimmerfenster auf die Terrasse fiel, sah ich Annes Hand,
eine schmale, lebendige Hand, die sich suchend bewegte und dann die Hand meines
Vaters fand. Ich dachte an Cyril und wünschte, er könnte mich auf dieser von
Mondschein und Grillen überschwemmten Terrasse in seine Arme nehmen. Ich wollte
liebkost, getröstet, mit mir selber ausgesöhnt werden. Mein Vater und Anne
schwiegen. Sie hatten eine Nacht der Liebe vor sich, ich hatte Bergson. Ich
versuchte zu weinen, mich selber zu bemitleiden — vergebens. Schon war es Anne,
die ich bemitleidete, als wüßte ich bereits, daß ich sie besiegen würde.
ZWEITER
TEIL
ERSTES KAPITEL
V on diesem Moment an haben meine
Erinnerungen eine Deutlichkeit, die mich erstaunt. Ich begann die anderen und
mich selber mit gesteigerter Aufmerksamkeit zu beobachten. Bisher hatte ich mir
immer den Luxus erlaubt, spontan und egoistisch zu sein. Ich fand das natürlich
und kannte nichts anderes. Diese wenigen Tage aber hatten mich so aufgewühlt,
daß ich nachzudenken und mich selber zu beobachten begann. Ich durchlebte alle
Schrecken der Selbstbetrachtung, ohne mich aber deshalb mit mir selber
auszusöhnen. ›Was ich da empfinde‹, dachte ich, ›was ich Anne gegenüber
empfinde, ist dumm und armselig, und der Wunsch, sie von meinem Vater zu
trennen, ist grausam.‹ — Aber andererseits, warum mich anklagen? Da ich einfach
nur ich selber war, hatte ich denn nicht die Freiheit, zu fühlen, was ich
fühlte? Zum erstenmal in meinem Leben schien dieses Ich sich zu spalten, und
die Entdeckung meiner Zwiespältigkeit erstaunte mich grenzenlos. Ich fand
ausgezeichnete Entschuldigungen für mich und sagte sie mir leise vor und hielt
mich für völlig aufrichtig, und dann tauchte plötzlich ein anderes Ich auf, das
meine eigenen Argumente für falsch erklärte und mir zurief, daß, wenn sie auch
den Anschein erweckten, wahr zu sein, ich mich täuschte und mir selber etwas
vormachte. Aber war es in Wirklichkeit nicht vielleicht dieses andere Ich, das
mich täuschte? Und war diese Hellsichtigkeit nicht der schlimmste aller
Irrtümer? Stundenlang debattierte ich mit mir in meinem Zimmer, um mir darüber
klarzuwerden, ob die Angst und die Feindseligkeit, die Anne mir gegenwärtig
einflößte, berechtigt waren oder ob ich nichts anderes sei als ein verwöhntes,
egoistisches kleines Mädchen mit einer falschen Vorstellung von Unabhängigkeit.
Ich wartete ab und wurde täglich
magerer. Ich tat nichts, lag nur am Strand und schlief und bewahrte
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