Bonjour Tristesse
sie ihn:
wegen seines Lachens, wegen seiner festen, beruhigenden Arme, seiner Vitalität,
seiner Glut. Sie war vierzig Jahre alt — da war die Furcht vor der Einsamkeit,
vielleicht der letzte Sturm der Sinne... Ich hatte Anne nie als Frau empfunden,
sondern als ein Wesen. Ich hatte Selbstsicherheit an ihr erlebt, Vornehmheit,
Intelligenz —aber Sinnlichkeit, weibliche Schwäche... Ich verstand, daß mein
Vater stolz war: die hochmütige, gleichgültige Anne Larsen heiratete ihn! Aber
liebte er sie, konnte er sie lange lieben? War ein Unterschied zwischen der
Zärtlichkeit, die er für Anne hatte, und seiner Zärtlichkeit gegenüber Elsa zu
erkennen? Ich schloß die Augen, die Sonne machte mich müde. Wir saßen alle drei
auf der Terrasse und waren erfüllt von Dingen, die wir nicht sagten, von
heimlicher Furcht und von Glück.
Elsa kam während der nächsten Tage
nicht zurück. Eine Woche verging im Fluge, sieben schöne und glückliche Tage —
die einzigen. Wir entwarfen ausführliche Pläne für die Einrichtung der Wohnung
und unseren Tageslauf. Mit der Ahnungslosigkeit von Leuten, die so etwas nie
gekannt haben, machte es meinem Vater und mir großen Spaß, ihn gedrängt und
schwierig zu gestalten. Aber haben wir je wirklich daran geglaubt? Jeden Tag um
halb ein Uhr Mittagessen, immer zur gleichen Stunde, immer am gleichen Ort, zu
Hause Abendessen und dann nicht ausgehen — hat mein Vater das wirklich je für
möglich gehalten? Nun, in jenen Tagen begrub er fröhlich das Zigeunerleben,
predigte Ordnung und ein gut organisiertes, vornehmes, bürgerliches Dasein.
Aber zweifellos war es für ihn — genauso wie für mich — nur eine Konstruktion
des Verstandes.
Ich habe von dieser Woche eine
Erinnerung bewahrt, die ich immer wieder durchwühle, um mich zu prüfen. Anne
war entspannt, voller Vertrauen, sie war sanft und weich, und mein Vater liebte
sie. Ich sah sie morgens Arm in Arm herunterkommen, lachend, blaue Ringe unter
den Augen, und ich wäre glücklich gewesen, ich schwöre es, wenn das das ganze
Leben gedauert hätte. Am Abend gingen wir oft an den Strand hinunter und
tranken einen Aperitif auf einer der Terrassen. Überall hielt man uns für eine
normale, engverbundene Familie. Ich war gewohnt, allein mit meinem Vater
auszugehen und boshafte Blicke oder mitleidiges Lächeln einzuheimsen, und war
froh, nun wieder eine Rolle zu spielen, die meinem Alter entsprach. Die Hochzeit
sollte nach unserer Rückkehr in Paris stattfinden.
Der arme Cyril hatte nicht ohne eine
gewisse Bestürzung unsere familiäre Umgestaltung gesehen. Aber er freute sich
über das legale Ende. Wir segelten zusammen in seinem Boot, wir küßten
einander, wenn uns danach zumute war, und manchmal, während er seinen Mund auf
meinen preßte, sah ich wieder Annes Gesicht mit den leisen Spuren der Nacht vor
mir. Ich dachte daran, wie die Liebe ihre Bewegungen träge und gelöst gemacht
hatte — und ich beneidete sie. Küsse erschöpfen sich, und wenn Cyril mich
weniger geliebt hätte, wäre ich in jener Woche wahrscheinlich seine Geliebte
geworden.
Wir kamen um sechs Uhr von den Inseln
zurück, und Cyril zog das Boot auf den Sand. Wir gingen durch den Fichtenwald
nach Hause und spielten, um warm zu werden, Indianerspiele und Wettrennen mit
Handikap. Er holte mich regelmäßig vor dem Haus wieder ein, stürzte sich mit Siegesgeschrei
auf mich, rollte mich in den Fichtennadeln, umarmte und küßte mich. Ich
erinnere mich noch an den Geschmack seiner atemlosen, unwirksamen Küsse und an
das Klopfen seines Herzens, das im Takt mit den Brandungswellen am Strand gegen
das meine klopfte... Eins, zwei, drei, vier Herzschläge und das weiche Geräusch
auf dem Sand, eins, zwei, drei... eins: Sein Atem ging wieder regelmäßig, seine
Küsse wurden sicherer, fester — ich hörte das Meer nicht mehr, in meinen Ohren
war nur noch der schnelle und gejagte Takt meines eigenen Blutes.
Eines Abends schreckte uns Annes Stimme
auf. Wir lagen nebeneinander, halbnackt in der roten Glut der Abenddämmerung,
die voll von dunklen Schatten war, und ich verstehe, daß man unsere Situation
mißdeuten konnte. Anne sprach meinen Namen mit einer gewissen Schärfe aus.
Cyril war mit einem Sprung auf, er
schämte sich natürlich. Ich erhob mich sehr viel langsamer und blickte dabei
auf Anne. Sie drehte sich zu Cyril um und sagte sanft und leise und so, als ob
sie ihn gar nicht sähe:
»Ich erwarte, Sie nicht mehr
wiederzusehen.«
Er antwortete nicht, neigte
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